Olaf Scholz hat es schwer. Der SPD-Vize-Kanzler wird demnächst Kanzler. Der Koalitionsvertrag ist verhandelt. Die Kanzlerwahl ist auf den 8. Dezember festgelegt. Die Wahl scheint eine reine Formsache zu sein. Doch der Kanzlerkandidat traut dem Braten offenbar nicht.

Nicht schwach erscheinen

Obwohl es unumgänglich war, sich vor der Kanzlerwahl zur anschwellenden Pandemie zu äußern, blieb Scholz lange stumm. Die künftigen Koalitionspartner benannten ihre Minister für das künftige Kabinett. Auch zu diesem Thema schwieg Scholz. Er hält mit den SPD-Ministern hinterm Berg. Er ist vorsichtig.

Es gilt, alles zu vermeiden, was ihn im Bundestag bei der Kanzlerwahl Stimmen kosten könnte. Dass ihm der eine oder andere Abgeordnete der Ampelfraktionen einen Denkzettel verpasst, muss ihn nicht sorgen. Sollte ihm aber ein nennenswerter Teil der Ampelabgeordneten die Stimme verweigern, könnte sich bei seinem Amtsantritt der Eindruck verfestigen, er sei ein Schwächling.

Scholz scheint zu spüren, dass diese Empfindung in der Luft liegt. Auf die Kanzlerwahl soll kein Schatten fallen. Scholz ging allem aus dem Weg, was die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen irritieren oder verärgern konnte. Doch so simpel fügen sich die Dinge nicht. Seine Vorsicht bewirkte das Gegenteil des Gewünschten. Sein Schweigen wurde unversehens zur Belastung. Plötzlich galt er als entscheidungs- und handlungsschwach.

Als Stümper abgestempelt

Die wachsenden Probleme der Pandemie und der öffentliche Druck zwangen ihn, dann doch tätig zu werden. Die Ampelfraktionen änderten das Infektionsschutzgesetz, um dem Vorwurf der Untätigkeit zu begegnen. Wieder trat ein, was Scholz vermeiden wollte. Es kam zu Unstimmigkeiten unter den Koalitionspartnern.

Die Reform des Gesetzes fiel angesichts der dramatischen Coronalage nach Ansicht vieler Fachleute und Beobachter unangemessen dürftig aus. Sie wurde als untauglich eingestuft, die Corona-Probleme in den Griff zu bekommen. Es hagelte Kritik. Scholz war der FDP entgegengekommen, die sich seit jeher harten Beschränkungen widersetzt und mit dieser Position viele Wähler gewonnen hat.

Die Grünen hatten härtere Maßnahmen gewünscht, sich aber nicht durchsetzen können. Sie waren verstimmt und verbargen es nicht. Das erste Krisenprojekt der Ampelkoalition wurde nicht nur als Flop abgewertet. Es offenbarte auch den Dissens zwischen den Partnern. Seine Urheber wurden als Stümper abgestempelt. Der künftige Bundeskanzler stand als derjenige da, der das Ausmaß der vierten Welle unterschätzte.

Am Misserfolg beteiligt

Damit sich dieser Eindruck nicht festsetzte, musste die Reform reformiert werden. Der Fehlstart dürfte Scholz geschmerzt haben, weil er den Bürgern in Erinnerung rief, was er sie lieber vergessen machen möchte: dass er und die Ampelparteien in der Coronapolitik nicht bei null anfangen.

Er und die drei Parteien tragen Mitverantwortung dafür, dass sich die zweite und die dritte Welle zur gigantischen vierten Welle auswachsen konnten, die nun immer mehr Opfer fordert, immer teurer wird und das Gesundheitswesen sprengt.

Hört man Scholz zu, könnte man meinen, das Virus und seine Verbreitung seien das Werk fremder dunkler Mächte. Dabei ist die Coronakrise von Beginn an auch die Krise des Vizekanzlers. Er hat die schwankende Pandemiepolitik der Großen Koalition mitgetragen. Er hat ihre Misserfolge mitzuverantworten.

Rettungsanker Pandemie

Scholz und die SPD stehen mit dieser schweren Bürde in der Ampelkoalition nicht allein. Den Misserfolg im Kampf gegen das Virus haben auch die Ampelparteien über die Koalitionen in den Bundesländern mitverursacht. Das gilt in besonderem Maße für die FDP. Deren Pandemiepolitik war weniger von Sachkunde als von liberaler Ideologie geprägt.

Die FDP stand zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 dicht an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Partei fürchtete, wie bei der Wahl 2013 auch bei der Bundestagswahl 2021 aus dem Parlament zu fallen. Die Pandemie erwies sich für die FDP als Rettungsanker.

Sie nutzte ihn, um Selbständige und junge Leute an sich zu binden, die über den Lockdown unzufrieden waren. Die FDP plädierte dafür, die Beschränkungen zu lockern. Sie bot dem Virus Expansionsmöglichkeiten. Sie begünstigte die zweite und die dritte Welle. An der vierten scheiterte diese Politk.

Noch nicht fest auf seinen Beinen

Um die wachsenden Coronaschäden einzubremsen, werden bundesweit Impfungen forciert und Einschränkungen für Ungeimpfte verschärft. Die Kampagne geht auf Druck der Union, der Grünen und aus dem Gesundheitswesen zurück. Die FDP drohte an den Pranger zu geraten. Die Klimmzüge, die Scholz vorführte, dienten auch dem Zweck, den Widerstand der FDP gegen die Impfpflicht so zu überwinden, dass ihr Vorsitzender LIndner sein Gesicht nicht verlor.

Bei diesem Bemühen handelte sich Scholz den Vorwurf ein, als Krisenmanager sei es mit ihm nicht weit her. Bei den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über Beschränkungen wirkte der künftige Kanzler immer noch wie Merkels Assistent. Seine Imageberater registrierten, dass seine Zurückhaltung ihm schadet. Um sie vergessen zu machen, gibt er sich nun bei seinen Auftritten für seine Verhältnisse energisch.

Noch steht der künftige Kanzler nicht fest auf seinen Beinen. Scholz ringt mit seiner phlegmatischen Natur. Er scheint sich nicht sicher, wie er sich der Öffentlichkeit präsentieren soll. Diese Unsicherheit hängt mit seinem Naturell zusammen, aber auch mit den ungefestigten Machtverhältnissen, in denen er agieren muss.

Zu FDP-lastig

In der SPD gehört er zum kleinen, aber machtbewussten rechten Flügel der Partei. Scholz weiß, dass sich seine härtesten Kritiker auf dem linken SPD-Flügel finden. Dessen Mitglieder beäugen ihn seit jeher argwöhnisch. Sie haben seine Wahl zum SPD-Chef verhindert. In der SPD-Bundestagsfraktion ist der linke Flügel mit den Abgeordneten der Jusos an der Spitze sehr stark vertreten.

Die Jusos halten die Ampel für eine Notlösung, den Koalitionsvertrag für unzureichend verhandelt und für zu FDP-lastig. Aus Sicht der Jusos ist Scholz der FDP viel zu weit entgegengekommen. Die Grünen teilen diese Auffassung. Auch sie meinen, Scholz habe den Wünschen der FDP zu viel Raum geboten und grüne Inhalte beschnitten.

Sich auf schwankendem Boden aufrecht zu halten, fällt schwer, zumal dann, wenn man so stark exponiert ist wie Scholz. Die Balance zu wahren erfordert Erfahrung, die Scholz erst erwerben muss. Bisher konnte er, wenn es ernst wurde, stets den Kopf einziehen. Es fand sich stets jemand, der ihm das Schlimmste abnahm.

In der Hand der Kleinen

Von nun an muss Scholz aber mit drei Bällen jonglieren: mit der FDP und den Grünen, die sich nicht grün sind, und mit seiner Partei, deren Binnenverhältnisse seit längerer Zeit in Bewegung sind. Die Aufgaben in der Ampelkoalition sind verteilt. Die Rollen sind zugewiesen, aber noch nicht eingespielt.

Die Grünen setzen die Ziele und verbinden sie mit Forderungen. Die FDP muss dafür sorgen, dass sie bezahlt oder abgewiesen werden. Die SPD muss dafür sorgen, dass die Gestaltungskräfte der beiden kleineren Parteien nicht zu Fliehkräften werden und die Koalition nicht aus der Kurve tragen.

In der Ampelkoalition werden nicht Scholz und die SPD den Ton angeben, obwohl sie diesen Eindruck gerne vermitteln. Die beiden kleinen Parteien, die sich bisher fremd waren, haben es in der Hand, die Koalition zum Erfolg oder zu Fall zu bringen. FDP und Grüne entscheiden, ob das Bündnis zustande kommt, ob Scholz Kanzler wird und wie lange er es bleibt. Diesen Sachverhalt will er übertünchen. Deshalb betont er ständig, die Ampel werde auch nach der nächste Bundestagswahl regieren.

Immer noch ungefestigt

Tatsache ist: Die Grünen und die FDP hätten für den Fall der Fälle in absehbarer Zeit mit der Union eine Alternative zur SPD. Die Aussicht auf eine Jamaikakoalition setzt den Sozialdemokraten und der Macht ihres künftigen Bundeskanzlers enge Grenzen. Merkel stützte sich auf ihre Mehrheit in der CDU, ihre Wahlerfolge und ihre hohen Sympathiewerte in der Bevölkerung und in der Wählerschaft der Konkurrenzparteien. Scholz kann bisher nur von seinem Wahlerfolg zehren.

Selbst wenn er Merkels Machtgrundlagen hätte, könnte er sie nicht so nutzen, wie es seine Vorgängerin tat. Sein Erfolg und der seiner Koalition hängen von der Kooperation zwischen FDP und Grünen ab und deren Wohlwollen. Sie verschaffen ihm die Kanzlerschaft. Sie können sie ihm nehmen, ohne selbst die Macht zu verlieren.

Der Wahlerfolg und die Kanzlerschaft können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die SPD immer noch ungefestigt ist. Um auf dieser wackligen Grundlage die Koalition zu leiten, braucht Scholz ein hohes Maß an Flexibilität. Seine Kanzlerschaft bietet der SPD keine Gewähr, ihre derzeitige Stärke von rund 25 Prozent zu bewahren oder gar zu steigern.

Ratschlag für die Jusos

Vor fünf Monaten noch lag die Kanzlerpartei bei nur 14 Prozent. Die Tendenz wies damals nach unten. Dass die SPD heute deutlich besser dasteht, nutzt sie nach alter Gewohnheit zur Selbstmystifizierung. Sie schreibt ihren Aufstieg der Leistung ihres Generalsekretärs Klingbeil zu. Dabei verdankt sie den Auftrieb vor allem dem Kollaps der Union, den CSU-Chef Söder rücksichtslos betrieb und systematisch herbeiführte.

So schnell, wie es mit der SPD bergauf ging, kann sie demnächst wieder bergab rollen. In der Partei sieht man dieses Risiko. Es könnte wachsen, wenn die Ampel nicht hinreichend kooperiert, wenn die Union schnell auf die Beine kommt und in den Umfragen zulegt.

Nicht ohne Grund wies Scholz gleich nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen die nörgelnden Jusos darauf hin, sie sollten sich nicht in den verhassten Koalitionspartner FDP verbeißen, sondern sich mit den Unionsparteien CDU und CSU befassen. Der Gegner der SPD befinde sich nicht in der SPD-geführten Regierung, sondern in der Opposition.

Die Weichen gestellt

Dieser Hinweis ist wohl nur ein Teil der Wahrheit. Größter Konkurrenz der SPD ist der grüne Koalitionspartner. Er war vor der Wahl drauf und dran, stärkste Kraft und Kanzlerpartei zu werden, bis seine Kanzlerkandidatin Baerbock als Hochstaplerin aufkippte. Hätte sie alle Tassen im Schrank gelassen, wäre sie heute die künftige Kanzlerin und die SPD bestenfalls kleiner Koalitionspartner.

Der Partei müsste klar sein: Die Grünen wollen immer noch Volks- und Kanzlerpartei werden. Sie dürften ihre Chance wahrnehmen, sobald sie sich bietet, dann womöglich mit Habeck an der Spitze. Die FDP muss die SPD nicht fürchten. Lindner und die Liberalen sind schon froh, wenn sie als Klientelpartei Zuspruch finden. Die Zahl der Wähler, die von beiden Parteien umworben werden, ist überschaubar.

Die SPD trifft weitsichtig Vorkehrungen für die Zukunft. Der rechte Parteiflügel macht seinen Exponenten Klingbeil zum SPD-Chef, die SPD-Linke Kühnert zum Generalsekretär. Beide Lager trauen ihren Favoriten zu, Wahlen zu gewinnen. Diese Personalentscheidungen deuten künftige innerparteiliche Konflikte an. Sie weisen über Scholz hinaus und relativieren ihn schon jetzt. Noch ehe er Kanzler ist, wurden die Weichen für die Zeit nach ihm gestellt. Das macht ihn zu einem Mann des Übergangs. – Ulrich Horn


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2 Comments

    • Stimmt: Die FDP ist eine Männer- , und die Grünen eine Frauen-Partei. Insbesondere bei den ganz Jungen ist die Geschlechterdisparität besonders ausgeprägt.

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