Helmut Kohl hat sich zur Lage in Europa geäußert. Sie treibt ihn um. Er findet sie innen- und außenpolitisch besorgniserregend. In vier Punkten kann man ihm beipflichten – bei drei Sachverhalten und einem frommen Wunsch.

Frommer Wunsch

Sachstand ist: Europa steckt in einer Zerreißprobe, weil die EU-Staaten eigene Interessen in den Vordergrund rücken. Sachstand ist auch: Die Lösung der Flüchtlingsprobleme liegt in den Regionen, aus denen die Flüchtlinge kommen.

Recht hat Kohl ebenfalls mit seiner Schlussfolgerung: Die EU-Staaten gefährden ihre Existenz, wenn sie nicht enger kooperieren. Auch dem frommen Wunsch des Ex-Kanzlers kann man sich anschließen: Einsame Entscheidungen der europäischen Regierungen sollten der Vergangenheit angehören. Damit endet die Übereinstimmung.

Die EU wird von Kräften infrage gestellt, die Kohls Vorstellungen von Europa für einen Witz halten und sich einen Dreck darum kümmern, ob Merkel oder sonst wer Alleingänge macht oder nicht. Aus Furcht vor diesen europafeindlichen Kräften sehen sich alle EU-Regierungen veranlasst, die nationalen Aspekte und Interessen stärker zu betonen.

Unbrauchbare Instrumente

Kohl selbst hat dazu Vorschub geleistet. Er hat versäumt, seine großen EU-Leistungen, den Euro und das Schengenabkommen, krisenfest zu machen. Ein großer Teil der Europafeindlichkeit resultiert aus diesen Mängeln. Nun müssen sich seine Nachfolger mit den Defiziten seiner Politik herumschlagen. Im Grunde beklagt Kohl die Langzeitfolgen seiner Politik.

Seine Behauptung, die Flüchtlinge gefährdeten Europas Existenz, ist abwegig. Es sind nicht die Flüchtlinge, die „unsere Existenz“ gefährden, sondern unsere Haltungen und Einstellungen zu ihnen. Unser Umgang mit ihnen ist nicht pragmatisch, sondern ideologisch geprägt. Das erschwert es uns, ihnen für kürzere oder längere Zeit Schutz zu bieten und darin auch Vorteile für uns zu sehen und sie zu nutzen.

Kohl hat mit seiner Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, an dieser Fehlstellung mitgewirkt. Statt das alternde Land familienfreundlicher zu gestalten und darauf einzurichten, mit Zuwanderern zielorientiert fertig zu werden, hat er Instrumente hinterlassen, die für diese Aufgabe unbrauchbar sind.

Kulturelle Differenzen

Weder die Verwaltungen noch die Bildungseinrichtungen sind darauf eingestellt, mit einer größeren Zahl von Fremden umzugehen, ein Versäumnis, das schwer wiegt in einem Land, das vom Export lebt.

Noch widersprüchlicher ist Kohls Einschätzung zur europäischen Kultur und zur Sicherheitspolitik. Beide sind keineswegs einheitlich, wie Kohl insinuiert. Sie sind sogar auf dem engen Raum, den Europa bietet, ungewöhnlich vielfältig und auch gegensätzlich.

Die Angst vor Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen ist deshalb so groß, weil die christliche Prägung, die Kohl in Europa unterstellt, eben ganz und gar nicht so gefestigt ist, wie er glauben machen will. Große Teile der deutschen und europäischen Bevölkerung fühlen sich christlichen Wertvorstellungen nicht verpflichtet. 25 Jahre nach der Einheit unterscheiden sich die Kulturen selbst in beiden Teilen Deutschlands noch sehr stark voneinander, auch in ihrer Einstellung zum Christentum.

Nationalistische Politik

Noch viel stärker sind die kulturellen Differenzen zwischen den EU-Staaten, deren Identitäten sich über Jahrhunderte gegeneinander ausformten. Die Unterschiede beginnen schon bei den Vorstellungen, die Franzosen und Deutsche von der Rolle des Staates haben. Von den unterschiedlichen Rechtssystemen in Europa ganz zu schweigen.

Was Polens Regierung in ihrem Land anrichtet, möchte man auf Europa nicht übertragen sehen. Was Kohls Freund Orban in Ungarn treibt, ist als Vorbild für Europa ebenfalls unbrauchbar. Er hält sich im Amt, weil er nationalistische Politik betreibt. Er ließ die Flüchtlinge, die Merkel später zu seiner Entlastung im Alleingang übernahm, nach Ungarn einreisen und sie ungehindert durch sein Land zur österreichischen Grenze ziehen. Hatte er das mit Juncker, Merkel, Hollande, Renzi und Tsipras abgestimmt? Wohl eher nicht.

Kohl hat große Verdienste um Europa und Deutschland. Er leidet offenbar darunter, dass er nicht hinreichend gewürdigt wird. Diesen Umstand hat er sich selbst zuzuschreiben. Mit seinem Spendenskandal hat er seine Großtaten befleckt. Dass er nun seinen Freund Orban als Vorbild für ein besseres Europa anführt, ist so absurd, dass es fast schon amüsant ist. Es zeigt: Helmut Kohl ist – wie Orban – ein Mann von gestern. – Ulrich Horn

Lesen Sie dazu auch: Scheitert der Altkanzler?


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8 Comments

  1. Pingback: Der Ruhrpilot | Ruhrbarone

  2. Der Verfasser hat den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit übersehen. Man sollte in den Geschichtsbüchern nachblättern …

  3. Wenn die Nachfolger einer großen Firma, deren Aufbau die große Leistung des vormaligen Eigentümers ist, diese nach der Übernahme in Grund und Boden fahren aufgrund von Ideologien oder Besserwisserei, dann kann man dies nicht dem vorherigen Eigentümer anlasten. Und meinen, er hätte die Firma wetterfest machen sollen. Erstens kann er auch nicht in die Zukunft sehen, er kann auch nicht verhindern, dass sich die schlauen Nachfolger an keinerlei Gesetzmässigkeiten haltn. Mit diesem Vergleich kann man die Argumente dieses Artikels parieren. Da die EU keinerlei erworbene Macht und Wissen besitzt, ein Konglomerat von Nichtsnutzen ist, die nur auf ihren eigenen Vorteil und Einkommen aus sind, ist es mehr als richtig, dass die Einzelstaaten versuchen sich zu retten. Dass man diese Rettungsversuche ideologisch verdammt, zeigt einmal mehr, wie sich sog. Nachfolger verhalten. Nur nicht zugeben, dass sie ideologische Nachbeter sind. Ansonsten mit keinerlei Leistung glänzen, es sei denn Glühlampenverbot und Gurkenkrümmung.

  4. Wir haben ja alle Kohl nicht mehr gemocht. Aber wenn ich mir seine Steuerpolitik und Rentenpolitik ansehe, da hat er den Sozialstaat bewahrt. Der Blümsche Spruch „Die Renten sind sicher“ hat zu Kohls Zeiten gestimmt. Wer hat schließlich den Sozialstaat, ein weltweit erfolgreiches und gutes Modell, geschleift? Schröder, Fischer, Merkel! Alles geachtete Politiker, deren Achtung aber nicht auf ihren Vorstellungen von einer funktionierenden Demokratie beruht, sondern – ja, worauf eigentlich?

  5. Roland Mitschke Reply

    Helmut Kohl war bis 1998 Bundeskanzler. Er hat die Wiedervereinigung mit seiner Politik erreicht und Europa zusammen gehalten. 18 Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Amt ihn für heutige Entwicklungen verantwortlich zu machen, erscheint ungerecht, unfair und von Polemik getragen (s. Hinweis auf Spendenaffäre). Übrigens datiert der Lissabon-Vertrag aus dem Jahr 2007, also 8 Jahre nach Kohls Kanzlerzeit. Dass Kohl jetzt mit Orban spricht, zeigt sein ungebrochenes Engagement für die europäische Idee. Man darf davon ausgehen, dass er seinen evtl. Einfluss in diesem Sinne nutzen wird.

  6. Roland Appel Reply

    Von Birne war nichts anderes zu erwarten. Er war und ist machtversessen, ideenlos, realitätsfern, was Migration belangt, korrupt und hat die Sozialkassen mit seinem Einheitsschwindel zum Nulltarif ruiniert. Das ist der Unterschied zu Staatsmännern wie Schmidt und Genscher. Es stünde ihm besser an zu schweigen.

  7. walter dyroff Reply

    -Er hat versäumt, seine großen EU-Leistungen, den Euro und das Schengenabkommen, krisenfest zu machen.-
    Waren es nicht die neoliberalen Gipfelstürmer die durch dauernde Lohnsenkungen (Hartz IV, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Zerstörung der Sozialsysteme etc.) zur Schwächung des Euro beigetragen haben?
    Sind es nicht dieselben neoliberalen Geister, die 130 Benzindiebe (viele Kinder und alte Menschen) hinrichten lassen? Die in Libyen, Syrien etc. im Kampf um Marktanteile auf dem Energiesektor Flüchtlingsströme produzieren?
    War es nicht Kohl, der sich gegen den Jugoslawienkrieg ausgesprochen hatte?

    -Mit seinem Spendenskandal hat er seine Großtaten befleckt-
    Ich erinnere noch einmal an die Gedmin-Merkel Verbindung im Zusammenhang mit dem Nein zum Jugoslawienkrieg.
    “Aus hochrangigen Quellen wissen wir, dass es eine deutsche Beteiligung unter Bundeskanzler Kohl
    nicht gegeben hätte.“… Deswegen unterstützte der amerikanische Präsident Clinton im Bundestagswahlkampf 1998 die SPD,“
    http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19970

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