Die Union erlebt eine Zeitenwende. 2018 gab Merkel den CDU-Vorsitz ab. 2021 wird sie das Kanzleramt freigeben. Wer wird sie beerben? Die Berichterstatter spekulieren, was die Phantasie hergibt. Dabei wissen sie sehr wohl, dass Mutmaßungen müßig sind. Gewissheit gibt es erst im Nachhinein. Sie wird sich schrittweise einstellen, mit der Wahl des CDU-Chefs im Dezember und der Bundestagswahl 2021. Was man heute kennt, ist der Kontext, in dem die Unionsparteien und ihre Kandidaten agieren.
Das CDU-Nachwuchstalent Spahn (40) zählt nach allgemeiner Auffassung zu den Gewinnern der Corona-Pandemie. Der Gesundheitsminister hat sich in der Krise einen Namen gemacht. 60 Prozent sind mit Spahns Arbeit zufrieden. Kann auch er mit sich zufrieden sein?
Die FDP schrumpft. Erstaunlicher als dieser Prozess ist das Tempo, in dem er sich vollzieht. 2017 kehrte die Partei nach vierjähriger Pause in den Bundestag zurück – mit einem zweistelligen Ergebnis. Sie wurde vierte Kraft, deutlich vor der Linken und den Grünen. Seither hat sich die FDP in den Umfragen mehr als halbiert. 2021 könnte sie erneut aus den Bundestag fliegen. Zu verantworten hat diesen rapiden Verfall ihr Vorsitzender Lindner.
Die Corona-Pandemie produziert nicht nur Opfer. Zu den Profiteuren gehört die Union. CDU und CSU haben in den wenigen Wochen seit dem Ausbruch der Krise in Umfragen stark zugelegt. Die Schwesterparteien finden heute mit 39 Prozent fast die Hälfte mehr Zuspruch als vor der Pandemie. Die Union ist dicht dran an Merkels bestem Wahlergebnis. 2013 erreichte sie 41,5 Prozent.
Bayerns Ministerpräsident, CSU-Chef Söder, verlangt, das Bundeskabinett zu verjüngen. Deutschland müsse schneller erneuert werden. Veränderungsbedarf sieht er in der Wirtschaftspolitik. Sie ist nicht bei der CSU angesiedelt, sondern bei der CDU. In Koalitionen gilt: Jeder Partner besetzt seine Ressorts nach eigenem Belieben. Weil Söder dieses Prinzip tangierte, fand er starken Nachhall. Es scheint, als sitze er so fest im Sattel, dass er der CDU-Kanzlerin Merkel Vorschriften machen könne. Doch der Schein trügt. Fest im Sattel sitzt nicht er, sondern sie.
Die CDU liefert ein seltsames Schauspiel. 2018 wollte ihr konservativer Flügel die CDI-Kanzlerin Merkel stürzen. 2019 machten sich die Konservativen dann daran, ihre neue Vorsitzende Kramp-Karrenbauer zu demontieren. Gegen die kleine Frau hat sich eine Garde politischer Goliaths aufgebaut. Über Mangel an Konkurrenten kann sie sich nicht beklagen.
Bundeskanzlerin Merkel hat die Europawahl Ende Mai genutzt, um die Union in Europa und Deutschland neu aufzustellen. Mitte 2018 sah es so aus, als könnte Seehofer mit den Konservativen die CSU und die CDU nach rechts drücken, auf Trump-Kurs bringen und Merkel stürzen. Heute wird deutlich: Merkel hat ihre Position gestärkt und Weichen für die Zukunft der Union gestellt.
Der frühere CSU-Chef Seehofer will sich nach Ablauf der Legislaturperiode ins Privatleben zurückziehen. Diese Entscheidung kommt für die Union fünf Jahre zu spät. Seit 2014 hat ihr Seehofer schwer geschadet. Er verschaffte der AfD und den Grünen zulasten der Union Aufwind. Sie ist dabei, ihre Rolle als führende Kraft an die Grünen zu verlieren.
Die CDU ist von sich ergriffen. Während die SPD in den vergangenen Monaten zur Kleinpartei schrumpfte, fühlt sich die CDU trotz ihrer schweren Verluste bei der Hessenwahl aufgeblüht. Seit Merkel ankündigte, den Vorsitz abzugeben, freut sich die Partei über ihre neue Bewegungsfreiheit. Wie lange wird die Freude anhalten? Die CDU scheint zu vergessen, dass sie sich auf dünnem Eis bewegt.
Für die CDU-Konservativen wurde der Hamburger Parteitag zum Debakel. Seit Jahren wollen sie Merkel stürzen. Im vergangenen Sommer wagten sie den Angriff. Sie wähnten sich fast am Ziel, als Merkel nach der Hessenwahl auf den CDU-Vorsitz verzichtete. In Hamburg wollten sie ihr den Rest geben. Der Plan ging daneben. Merkels Rückzug von der Parteispitze, ein Beleg ihrer schwindenden Macht, drehte sich gegen ihre Gegner. Nicht Merkel fiel. Ihre Kontrahenten stürzten. Der begeisterte Flieger Merz, der sich gerne als Überflieger inszeniert, legte wieder einmal eine Bruchlandung hin.