Corona blüht. Deutschland verdorrt. Zum vierten Mal zwingt das Virus die Republik zu Boden. Diesmal droht sie den Kampf zu verlieren. Der Grund liegt auf der Hand. Die Pandemie wird nicht sachgerecht, sondern politisch und ideologisch bekämpft. Das Land leidet zweifach – unter dem Virus und den Ideologen, vor allem unter denen der FDP.

Das Gemeinwohl gefährdet

Mit der Parole, das Recht des Einzelnen auf freie Entscheidung zu schützen, verschafft die FDP dem Virus ideale Bedingungen, sich auszubreiten. Der dramatische Anstieg der Corona-Fälle belegt: Wer sich die Freiheit nimmt, für die sich die FDP in der Pandemie so nachdrücklich einsetzt, und sich gegen die Impfung entscheidet, gefährdet das Wohl anderer Individuen und das Gemeinwohl.

Die Schäden, die impffähige Impfverweigerer verursacht haben, seit Impfstoffe verfügbar sind, treffen die übrigen Menschen nicht nur für Wochen und Monate. Die Folgen werden über Jahrzehnte spürbar sein und selbst dann noch das Leben der Kinder und Enkel beschränken, wenn es die FDP womöglich gar nicht mehr gibt.

Impffähige Impfverweigerer nehmen in Kauf, Kinder anzustecken, die nicht geimpft werden können, weil es für sie keinen Impfstoff gibt. Die Impfverweigerer erzwingen, dass Lebenskreis der Kinder zu ihrem Schutz eingeengt werden muss, dass die Entwicklung der Kinder gehemmt wird und das Leben ihrer Familien aus den Fugen gerät.

Von Impfverweigerern angesteckt

Impffähige Impfverweigerer nehmen auch in Kauf, Geimpfte anzustecken, deren Impfschutz zu schwächen, die Kosten der Pandemie für die Wirtschaft und das Gesundheitswesen zu steigern und Einnahmen zu verringern, die zur Entwicklung des Gemeinwesens benötigt werden.

Impffähige Impfverweigerer tragen dazu bei, dass mehr Menschen sterben müssen, als sterben müssten, dass mehr Menschen physisch, psychisch und finanziell unter Corona zu leiden haben, als leiden müssten, dass die Geimpften die Kosten zu tragen haben, die anfallen, wenn Impfverweigerer erkranken und andere anstecken.

Impffähige Impfverweigerer nehmen in Kauf, sich und andere zu schädigen. Muss der Staat zulassen, rechtfertigen und begünstigen, dass Menschen sich und andere zugrunde richten?

Abstruse Folgen der Freiheit

In Zeiten der Pandemie hat der Einsatz der FDP für individuelle Freiheit abstruse Folgen. Geimpfte, die um ihren Schutz bangen müssen, werden eindringlich ermahnt, Ungeimpfte nicht unter Druck zu setzen, sondern deren Verhalten zu akzeptieren.

Beim jüngsten Fußballländerspiel verlangte der DFB, dass sich im Stadion nur Zuschauer aufhielten, die geimpft oder genesen waren. Die Spieler aber dürfen ihrem Beruf ungeimpft nachgehen, obwohl er es ihnen unmöglich macht, die Corona-Regeln einzuhalten.

An den Spieltagen der Bundesliga sind in den Stadien und vor den Bildschirmen Millionen Zeuge, wie auf dem Rasen gegen die Corona-Schutzregeln verstoßen wird. Den Zuschauern im Stadion Schutz abzuverlangen, ihn den Spielern aber zu ersparen: Der Widersinn ist juristisch zementiert. Auf den Rängen gilt das Infektionsschutzgesetz, auf dem Rasen das Arbeitsrecht.

Den Schutzlosen schaden

Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit anderer einschränkt, bedroht und verletzt. Alle Menschen sind zu schützen, Kinder, Alte, Kranke und Schwache aber in besonderem Maße, weil sie schutzlos sind. Impffähigen Impfverweigerern aber lässt man großzügig die Freiheit, Kindern, Alten, Kranken und Schwachen schwer zu schaden.

Deutschland fällt es schwer, aus Schaden klug zu werden. Es leuchtet der Politik gerade noch ein, die Menschen an der Ahr nicht viermal in zwei Jahren schwerem Hochwasser auszusetzen. Was man dem Wasser abspricht, wird der Coronaflut ermöglicht, mit der Rücksicht auf die Freiheit der Impfverweigerer.

Schon die erste Welle der Pandemie hätte einen konsequenten Ausgleich zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl erfordert. Dass Deutschland heute die vierte Welle erlebt, zeigt: Die Politik und die Gesellschaft haben es bis heute nicht geschafft, den Ausgleich zustande zu bringen.

Ideologisch erstarrt

Die steigenden Zahlen der Toten, der Verletzten und der finanziellen Schäden belegen: Die Bemühungen, die Freiheit des Einzelnen zu schützen, fielen zum Nachteil zahlloser Individuen und des Gemeinwohls aus. Die Freiheit des Einzelnen richtet sich längst gegen ihn. Das Virus dezimiert die Impfverweigerer, die ihre individuelle Freiheit wahrnehmen, und verstopft die Hospitäler für Menschen mit anderen Krankheiten.

Dem Ausgleich steht vieles im Weg: Faulheit, Dummheit, Unwissen, Unentschlossenheit, Gleichgültigkeit, Überheblichkeit, Zynismus, Verantwortungslosigkeit, Feigheit und Eigensucht. An der Spitze auch die FDP.

Sie wirft anderen Parteien gerne ideologisch gesteuertes Verhalten vor. In der Coronakrise ist sie selbst ideologisch erstarrt. Die Realität ist gerade dabei, die Ideologie der FDP zu überrollen. Ihr Kampfruf „Privat vor Staat“ mag für ruhiges Wasser taugen. Im Sturm ist er so viel wert wie Pappe gegen Hochwasser.

In die Sinnkrise geraten

Schon während der Banken- und Finanzkrise erwies sich diese Parole der FDP als eine flüchtige Phrase. Damals wurde sehr schnell der Ruf nach dem Staat laut. Ohne seine Finanz- und Ordnungsmittel wären die Freiheit des Individuums und das Wohl des Gemeinwesens rasch am Ende gewesen.

Die Hilfe des Staates erfüllte damals ihre Aufgabe. Die FDP geriet in eine Sinnkrise. Die Realität hatte der Partei die Grundlage entzogen. Zuerst war ihre Ideologie von der Realität perforiert worden. Dann nahmen die Bürger der Partei bei der Wahl 2013 die Mandate fort. Die FDP flog aus dem Bundestag. Sie fiel ihrer Ideologie zum Opfer.

Die Partei schadete nicht nur sich. Auch die CDU bekam ihren Teil ab. Die schwarz-gelbe NRW-Koalition unter Rüttgers hatte 2005 „Privat von Staat“ zur Grundlage ihrer Politik gemacht. Die Parole wurde bald zur Last. Viele Wähler gewannen den Eindruck, „Privat vor Staat“ blende ihre Bedürfnisse aus. 2010 war Schwarz-gelb am Ende.

Als unsicherer Kantonist im Verruf

Laschet brachte 2017 eine Neuauflage zustande, mit der Mehrheit von nur einer Stimme. Um die Koalition über die Corona-Krise zu bringen, pendelte er unablässig zwischen dem Recht des Einzelnen, auf das die FDP pocht, und dem Interesse des Gemeinwesens, das CSU-Chef Söder thematisierte.

Laschets Schwanken hatte für ihn fatale Folgen. Er geriet in Verruf, ein unsicherer Kantonist zu sein. Ihm wurde angelastet, dem sachgerechten Kampf gegen die Pandemie auszuweichen, um der FDP-Ideologie „Privat vor Staat“ Rechnung zu tragen und seine Koalition mit ihrer knappen Mehrheit nicht zu gefährden.

Als CDU-Vorsitzender wollte Laschet nicht nur den breiten Bedürfnissen der Volkspartei gerecht werden, sondern gleichzeitig auch den viel engeren der Klientelpartei FDP. Dieser Spagat ging nicht gut. Der Unmut über die Pandemie-Politik wuchs in NRW, vor allem in jenem zentralen Bereich der Landespolitik, in dem die FDP das Sagen hat: in der Schulpolitik.

Die Koalition spalten

FDP-Schulministerin Gebauer wirkt auf viele, die von ihrer Schulpolitik betroffen sind, wie das rote Tuch auf den Stier. Dennoch steht die FDP in Umfrage gut da. Sie punktet bei ihrer Klientel, während die CDU den Schaden zu tragen hat. Ihre Umfragewerte sind stark gesunken und mit ihnen die der schwarz-gelben Koalition.

Ob sich die Lage in den sechs Monaten bis zur NRW-Wahl für Laschets Nachfolger Wüst noch ändern kann, ist nicht abzusehen. Die NRW-CDU ist in den Corona-Wirren der Schulpolitik personell und inhaltlich abgetaucht. Wüsts Chancen, die schwarz-gelbe Koalition im Mai 2023 zu verteidigen, stehen schlecht, zumal es die NRW-SPD darauf anlegt, die Koalition über die Pandemiepolitik zu spalten.

Die Schulpolitik birgt in NRW seit jeher Potenzial für einen Machtwechsel. 2017 trug sie dazu bei, Rot-grün in die Opposition zu schicken. Damals lag sie in der Hand der Grünen. Schon sie brachten die Schulpolitik in Verruf. Damals traf der Schaden ebenfalls den großen Koalitionspartner, die SPD.

Als Koalitionpartnerin gebraucht

Heute, unter den aufreibenden Bedingungen der Pandemie und der verunsichernden Vielfalt der politischen und ideologischen Reaktionen auf sie, gewinnen Differenzen in den einzelnen Politikressorts rasch an Brisanz. Diese Entwicklung kann sich verstärken, wenn die Pandemie länger anhält.

Deutschland mit seinen 17 Regierungen und 17 Parlamenten droht an ihr zu scheitern. Das Land leidet nicht nur an seinen Krisen, sondern auch unter der Trägheit seiner komplexen Strukturen, die den Kampf gegen die Krisen erschweren. In diesem Geflecht findet die FDP viele Ansatzpunkte, ihr überschaubares Klientel mit seinen spezifischen Interessen wirkungsvoll anzusprechen.

Es empfindet den Staat schon in normalen Zeiten als Bremser und Blockierer. Es braucht seine Hilfe nicht, nimmt sie jedoch gerne in Anspruch. Die FDP zeigte sich in der Diskussion um den Lockdown als Garantin der Freiheit. Ernsthafte Angriffe anderer Parteien auf ihre Pandemie-Position muss sie nicht fürchten, weil sie von CDU, SPD und Grünen hier und da als Koalitionspartnerin gebraucht wird.

Zum Opfer gemacht

Rührend beschwören FDP-Politiker heute jene Bürger, die so verantwortungsvoll waren und sich zweimal Impfen ließen, sich nun doch bitte zum dritten Mal impfen zu lassen. Die FDP erweckt den Eindruck, es wäre Sache der Geimpften, die Freiheit der Impfverweigerer zu schützen und sie davor zu bewahren, angesteckt zu werden.

Was würde die FDP wohl sagen, wenn die Geimpften vor den Abgeordnetenbüros, Parteizentralen und Parlamenten aufmarschierten und damit drohten, jene zu boykottieren, die Impfverweigerern die Türen öffnen und ihnen ermöglichen, ihre Freiheit zu nutzen und ungeimpft zu bleiben?

Corona konnte sich leicht verbreiten, weil es zu Beginn der Pandemie keinen Impfstoff gab und er später nur unzureichend beschafft wurde. Verbreitet wurde das Virus zunächst von impfwilligen Ungeimpften, dann von impffähigen Impfverweigerern, die sich auf das Recht zur freien Entscheidung beriefen. Zu deren Opfern zählen inzwischen auch viele Geimpfte mit Impfdurchbrüchen.

Nahe bei Rechtsextremisten

Die besten Verbündeten des Virus waren und sind bis heute die impffähigen Impfverweigerer. Man lässt ihnen sogar seit Monaten die Freiheit, Schwache und Geimpfte zu infizieren, den Impfschutz zu schwächen und Impfdurchbrüche zu bewirken.

Ein Drittel der Impffähigen, rund 15 Millionen, sind noch nicht geimpft. Viele Impfverweigerer finden sich vor allem in jenen Regionen, die als hinterwäldlerisch gelten: in Ostdeutschland und im Osten Bayerns. Lange scheute sich die Politik, in diesen Regionen und andernorts Ungeimpfte unter Druck zu setzen, wohl aus Furcht, die Wähler dort könnten noch weiter nach rechts driften.

Die FDP hat schon lange mit dem Verdacht zu kämpfen, sie suche die Unterstützung der Impfverweigerer. Wie nahe Teile der FDP bei den Rechtsradikalen stehen, zeigte sich 2020 in Thüringen, als sich ein FDP-Landtagsabgeordneter von der rechtsextremen AfD zum Ministerpräsidenten machen ließ.

Die Pandemie nachdrücklicher bekämpft

Die vierte Coronawelle nimmt ein Ausmaß an, das der administrativen, medizinischen und politischen Kontrolle der deutschen Regierungen, Parlamente und Verwaltungen zu entgleiten droht. Die Krise verschärft sich von Tag zu Tag. Die 17 deutschen Regierungen erscheinen hilflos.

Der Glaube, Deutschland habe sich in Europa zu einem Hort der Vernunft entwickelt, erweist sich als Irrtum. Südeuropäische Länder, die als leichtfertig verschrien sind, hatten wegen ihrer intensiven Familienbeziehungen und ihrer kontaktfreudigen Lebensweise unter dem Virus viel stärker zu leiden. Sie bekämpfen die Pandemie nun viel nachdrücklicher.

Die Impfquoten liegen in Portugal, Malta, Spanien und Italien deutlich höher als in Deutschland. Das gilt auch für Island, Dänemark, Irland, Belgien, die Niederlande, Finnland und Norwegen. In vielen Ländern sind die Schutzmaßnahmen rigoroser als in Deutschland. Besonders entschieden geht Italiens Regierungschef Draghi vor. Er gehört keiner Partei an.

Unter der Pandemie begraben

In Deutschland ist die vierte Welle der Pandemie drauf und dran, die FDP mit ihrer Forderung, die Freiheit des Einzelnen zu achten, krachend unter sich zu begraben. Je höher die Inzidenz ausfällt, desto schwerer fällt es der FDP, die Freiheit des Einzelnen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen.

Vier Jahre nicht im Bundestag, dann vier Jahre in der Opposition: Das hinterlässt Spuren. Die FDP sucht nach einem Profil, das ihr hilft, sich gegen die Konkurrenz zu behaupten. Zeitweise drohte sie erneut aus dem Parlament zu fallen, während die Grünen einen Aufschwung erlebten und sich kurzzeitig zur Volkspartei aufblähten.

Die FDP hat demonstriert, dass sie nicht um jeden Preis mitregieren will, als sie 2018 aus den Verhandlungen zu einer Jamaikakoalition ausstieg. Die großen Parteien wissen, wohin es führen kann, wenn die FDP in einer Koalition den Ton angibt und die Richtung bestimmt.

Die Sprache verschlagen

Die NRW-Regierung Rüttgers geriet in ihrer Endphase in den Sog der Proteste gegen die FDP-Politik und dann in die Opposition. Die SPD, die 2017 im Bund in die Opposition strebte, wurde vom Koalitionsverzicht der FDP 2018 gezwungen, in die Große Koalition zurückzukehren. Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen sorgte die FDP dafür, dass die SPD wie die Grünen ihre Wahlgeschenke weitgehend einpacken musste.

Der Druck der FDP in den Verhandlungen ist so groß, dass die grüne Vorsitzende Baerbock hilflos die Unterstützer ihrer Partei aufrief, gegen die FDP zu mobilisieren. Der SPD-Kanzlerkandidat Scholz nahm im Wahlkampf gerne die Attitüde des Kümmerers ein. Penetrant gab er sogar vor, sich um Dinge zu kümmern, um die er sich kaum kümmern konnte, weil sie nicht in seinem Einfluss- und Wirkungsbereich lagen.

Seit Tagen spitzt sich die Pandemie erneut zu. Die Krankenversorgung steht vor dem Kollaps. Doch vom künftigen Kanzler Scholz war lange nichts zu sehen und zu hören. Seit er mit der FDP über eine Ampelkoalition verhandelt, wirkt der Kümmerer stark verkümmert. Erst als viele Medien sein Schweigen scharf kritisierten, brach er es. Ein Grund für seinen Mangel an Präsenz lieferte er nicht. Vermutlich hat ihm die Pandemiestrategie seines künftigen Koalitionspartners FDP mächtig die Sprache verschlagen. – Ulrich Horn


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3 Comments

  1. Michael Michalski Reply

    Lieber Ulrich Horn,

    es ist legitim die Haltung der FDP in der pandemischen „vierten Welle“ kritisch zu sehen. Diese Partei nunmehr aber zum Sündenbock eines allgemeinen Staatsversagens zu machen, wird Ihrem allgemeinen Bemühen parteipolitischen Unvoreingenommenheit nicht gerecht. Vielmehr scheint Ihr heutiger Beitrag Ausfluss schierer Verzweiflung zu sein, dass die Ihnen nahstehende CDU politisch und parteipolitisch ein Bild des Grausens abgibt.

    Es ist doch nicht die in der aktuellen Situation der pandemischen Entwicklung vertretene Haltung der FDP, die den impffähigen Impfverweigerern Tür und Tor geöffnet hat. Es ist eine seit Jahren anhaltende gesellschaftspolitische Verwerfung, die demokratisch legitimiertes Handeln immer mehr ad absurdum führt. Egal welche politischen Entscheidungen als Ausfluss politischer Willensbildung getroffen werden, sie werden bei der Umsetzung umfänglich unterlaufen. Das betrifft sowohl die Administration als auch die Justiz, völlig abgesehen davon, dass man allen zeternden Minderheiten politisch mehr Gehör gibt als der – ich sehe sie noch – darbenden Mehrheitsgesellschaft. Aus der Angst vor parteipolitischen Stimmenverlusten läuft man seit Jahren obskuren Stimmen von Minderheiten hinterher. Dieses Verständnis einer Politik der Teilhabe hat nichts mehr mit unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung zu tun. Vielleicht sollte man sich einmal mit der Unterscheidung zwischen Politik- und Staatsverdrossenheit beschäftigen. Letzteres ist das Problem und brandgefährlich.

    Es ist doch unbestritten, dass wir in Deutschland und Europa eine Überregulieung in allen Lebensbereichen erreicht haben, die den Menschen, Bürgern und Wählern die Luft zum Atmen nimmt. Nie habe ich mich unfreier in diesem Land gefühlt. Eine parteipolitische Überschrift und gesellschaftspolitische Grundhaltung – „Privat vor Staat“ – als Gegenentwurf zu der allseits kritisierten Überregulierung nunmehr der FDP als Ursache und Verantwortlichkeit für die „vierte Welle“ anzulasten, liegt völlig neben der Sache und zeigt, wie Verzweiflung den ansonsten vorliegend geschulten Blick auf politische Zusammenhänge eintrüben kann.

    Mit einem kleinen Schlenker – so ganz nebenbei – die FDP in die Nähe rechter Lager in unserer Republik zu rücken, ist mehr als unziemlich. Es ist eine schlichte Frechheit und führt genau dazu, was verantwortliche Politiker verhindern wollen: das Auseinanderbrechen der Solidargemeinschaft Staat in eine Anarchie. Impfverweigerer sind doch Spiegelung dieser Staatsverdrossenheit. Unbestritten belasten sie die Solidargemeinschaft unmittelbar und unerträglich stark. Aber sie sind auch Teil des Wutbürgers, dem Politik bis heute mit arroganter Ignoranz begegnet. Pegida, Querdenker, Identitäre Bewegung, u.a eint doch die Abwendung, dann Ablehnung und am Ende Bekämpfung dieses Staates. Eine politische Aufarbeitung des „Warums“ wird nicht wirklich betrieben.

    Wer hat denn bis heute mehrheitlich die politische Verantwortung seit Ausbruch der Pandemie? Die FDP mit einzelnen Beteiligungen an Landesregierungen? Welche Parteien haben denn bis heute im Wesentlichen das politische Chaos und die gleichermaßen chaotische politische Kommunikation zu vertreten? Die FDP? Die FDP ist verantwortlich für ungeimpfte Fußballspieler, für zügellose Karnevalsveranstaltungen, für das nicht Überprüfen von angeordneten Zugangsvoraussetzungen in Fußballstadien und der Gastronomie? Die FDP verantwortet die Ansteckungsgefahr der Geimpften durch impffähige Nichtgeimpfte? Die FDP ist ursächlich für die Aussage des (noch) Bundesgesundheitsministers Jens Spahn, dass eine Impfpflicht unsere Gesellschaft zerreißen würde? Die FDP verantwortet die Urteile der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte, die enge und strenge Voraussetzungen an Notstandsgesetze knüpfen? Die FDP ist verantwortlich für die wiederholt völlig unzureichende Vorbereitung der alten Bundesregierung auf absehbare Entwicklungen? Die FDP steht demnach ausschließlich für Faulheit, Dummheit, Überheblichkeit, Zynismus, Verantwortungslosigkeit, Feigheit und Eigensuch politischer Verantwortungsträger? Der Einfluss der FDP auf die „Rüttgers-CDU“ vor elf Jahren ist ursächlich für das Staatsversagen von CDU und SPD in der Corona-Krise? Die FDP als Koalitionspartner in NRW mit der „Laschet-CDU“ ist ursächlich für Laschets scheitern im Kanzlerwettstreit mit „seinem Parteifreund Söder“ und der Dummheit der CDU ihren demokratisch gewählten und legitimierten Bundesvorsitzenden und Kanzlerkandidaten in der heißen Phase des Wahlkampfes unerträglich zu desavouieren? Die NRW FDP-Schulministerin trägt ausschließlich Verantwortung für das schulpolitische Hick-Hack? Gewerkschaften, Schul- und Schüler- sowie eine Vielzahl von Elternverbände haben JEDE schulpolitische Entscheidung mit Verve kritisiert, kaum dass sie verkündet wurde – von der Traumatisierung von Kindern bei einer Maskenpflicht bis hin zum Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der Schüler beim Wegfall der MaskenPFLICHT. Die FDP ist verantwortlich für das Politikversagen in der Corona-Krise durch das Scheitern der Koalitionsverhandlungen 2017? Die FDP und deren Wähler verantworten das Chaos einer Krisenbewältigung in einem föderalen Staat, dessen Scheitern in der Krise durch die unzähligen Ministerpräsidenten-Konferenzen gespiegelt wird? Es liegt an der FDP, dass „die vierte Coronawelle ein Ausmaß annimmt, das der administrativen, medizinischen und politischen Kontrolle der deutschen Regierungen, Parlamente und Verwaltungen zu entgleiten droht?“

    Lieber Ulrich Horn, bei meiner allgemeinen Wertschätzung Ihrer politischen Analysen: wenn etwas im heutigen Beitrag die Bezeichnung „abstrus“ verdient, dann sind es Ihre Gedanken einer Schuldzuweisung für objektives Staatsversagen in der Krise. Da braucht es nur noch des Vorwurfs, dass die FDP zu verantworten hat, dass mit den designierten Kandidaten für den Bundesvorsitz – Merz, Röttgen und Braun – Verjüngung und Neugestaltung der CDU nicht so wirklich überzeugend sind und die Partei nach der Wahl gleichermaßen zerrissen sein wird.

    Michael Michalski

    • Ulrich Horn Reply

      Es wundert mich nicht, dass Sie ihren Kommentar damit beginnen, nicht politisch zu verorten. Diese Eigenheit teilen Sie mit vielen Beobachtern der Politik. Der Verortende entwertet den Verorteten, und er entwertet seine Kritik anihm. Mit diesem Verhalten schafft sich der Verortende ein Vorurteil, das er dann mit seiner Kritik zu bestätigen trachtet. Ich selbst verspüre diese Neigung nicht, wohl aus zwei Gründen: Sie verstellt den Blick auf die Dinge. Und sie dient dem sachlichen Austausch von Argumenten und Fakten nicht.

      Nebenher gesagt: Es gibt keine Partei, die mir nahesteht. Es gibt auch keine Partei, der ich nahestehe. Ich versuche, zu allen Parteien Distanz zu wahren. Dass die Parteien zur mir stets Distanz gewahrt hätten, kann ich allerdings nicht behaupten. Alle haben irgendwann versucht, mir auf die Pelle zu rücken, gelegentlich mit ziemlich unangenehmen Folgen. Ich erwähne das nicht, um Sie zu überzeugen. Diese Hoffnung habe ich bei derartigen Anwürfen längst aufgegeben. Ich möchte Sie nur informieren.

      Sie reden von „allgemeinem Staatsversagen“ und sprechen von „Politik- und Staatsverdrossenheit“. Sie sehen „eine seit Jahren anhaltende gesellschaftspolitische Verwerfung, die demokratisch legitimiertes Handeln immer mehr ad absurdum führt“.

      Solche Hinweise erwecken den Eindruck, wir alle seien für die Zustände verantwortlich, die wir kritisieren. Dieser Eindruck verdrängt, wer tatsächlich die Verantwortung trägt, weil er sich wählen ließ, die Verantwortung zu tragen: Im Fall von Corona vor allem 17 Länderregierungen mit ihren Koalitionen, zu denen auch die FDP gehört. Sie sitzt zwar nur in vier Koalitionen. Sie deckt jedoch mit den Regierungen, denen sie angehört, 27 Millionen Einwohner oder ein Drittel der Bevölkerung ab.

      Die einzige verlässliche Leistung der verantwortlichen 17 Landesregierungen besteht bei Corona vor allem darin, die nächste Welle produziert zu haben und die wirtschaftlichen Folgen mit Steuermitteln und Krediten zu mildern.

      Der FDP geht es darum, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu reduzieren, die durch den Lockdown entstehen. Sie bringt deshalb das Recht des Individuums auf freie Entscheidung ins Spiel. Es soll dazu dienen, unerwünschte Folgen der Pandemie wie den Lockdown abzuwenden und das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben aufrecht zu erhalten.

      Dies ist das Hauptanliegen der relativ schmalen FDP-Klientel. Um wen es sich dabei handelt, können Sie jeder Analyse der Bundestagswahl entnehmen. Dieses Anliegen ist legitim, aber im Kampf gegen die Pandemie nicht sachgerecht und kontraproduktiv.

      Unter Berufung auf das Recht zur freien Entscheidung der Einzelnen kann man unter Umständen den Lockdown verhindern und bekämpfen. Dieses Recht taugt aber nicht dazu, das Virus zu bekämpfen.

      Zu diesem Zweck müssten möglichst alle geimpft werden. Das geschieht jedoch in Deutschland bei 15 Millionen Individuen nicht, unter anderen deshalb, weil viele das Recht auf freie Entscheidung in Anspruch nehmen und erkranken, auf diese Weise andere Individuen anstecken und deren Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzen.

      Ob die Impfverweigerer sich bei ihrem Verhalten ausdrücklich auf das Recht zur freien Entscheidung berufen oder nicht, ist zweitrangig. Sie verhalten sich so, wie es ihnen die FDP mit ihrer Position zur Pandemie nahelegt.

      Wer impffähig ist, aber das Recht beansprucht, die Impfung zu verweigern, tut das nicht, um den Lockdown zu vermeiden. Er riskiert und begünstigt die Verbreitung des Virus genau wie jene, die nicht Abstand halten, sich die Hände nicht waschen und keine Maske tragen.

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