Zu den größten Wundern der deutschen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg zählt neben dem Wirtschaftsaufschwung der 50er Jahre und der Wiedervereinigung von 1989/90 auch der Umstand, dass die SPD immer noch existiert.

Sorgfalt vor Tempo

Dabei setzt die Partei seit Jahrzehnten alles daran, sich zu zerstören. Ihr jüngster Selbstmordversuch: Spitzenfunktionäre arbeiteten über viele Wochen daran, die Vorsitzende und Fraktionschefin Nahles niederzumachen und zu entmachten – mit Erfolg. Nahles hat die Nase voll. Sie steigt aus der Politik aus.

Intrigen gegen Parteichefs und Kanzlerkandidaten haben in der SPD eine üppige Tradition. Mit den drei kommissarischen Nachfolgern von Nahles hat die SPD in diesem Jahrhundert bereits zwölf Vorsitzende benötigt. Fast alle scheiterten krachend an ihren Genossen.

Die durchschnittliche Amtszeit der SPD-Chefs liegt in diesem Jahrhundert bei weniger als zwei Jahren. Fähige Kandidaten für den Vorsitz werden allmählich rar. Niemand drängt es auf den Chefsessel. Er ist zum Schleudersitz geworden. Die SPD gibt ihren Vorsitzenden keine Zeit, die Partei neu auszurichten. Bei der Demontage ihrer Anführer nimmt sich die Partei dagegen jede Menge Zeit. Da verfährt sie nach der Devise: Sorgfalt vor Tempo.

Kein Rehakonzept

Ihre Schlachtfeste zelebriert die SPD geradezu genüsslich. Sie achtet peinlich darauf, dass die Wähler die Personalkonflikte in der Partei lange genug gut wahrnehmen können, damit sie über das Gemetzel an der Parteispitze genügend Abscheu entwickeln können. Die Folgen sind nicht ausgeblieben.

Die Partei zahlt einen hohen Preis. Sie verliert Mitglieder, Wähler und Wahlen. Bei der EU-Wahl 1999 kam sie auf 30,7 Prozent und 33 Mandate. 2019 ist sie auf 15,8 Prozent und 16 Sitze geschrumpft. In Umfragen krebst sie nun bei 12 Prozent herum. Wie lange dauert es wohl, bis sie einstellig ist?

Zwei Jahrzehnte brauchte die Partei, um ihr Gewicht zu halbieren. Den Funktionären sind die Gründe für den Niedergang offensichtlich rätselhaft. Sie ahnen zwar, dass sich etwas ändern muss. Immer wieder reden sie von Erneuerung. Sie schaffen es aber nicht, ein Rehakonzept gegen die Magersucht zu entwickeln und umzusetzen.

Immer weniger Direktmandate

Sie haben in Kauf genommen, dass sich der Zustand der Partei stetig verschlechterte. Sie verkümmert, obwohl sich ihre Funktionäre und Mandatsträger immer intensiver mit ihrem Innenleben befassten. Das Ergebnis ist für die SPD-Mitglieder frustrierend. Je mehr sich die Funktionäre auf das Binnenleben der Partei konzentrieren, desto stärker geht es mit ihr bergab.

Die Nabelschau ist für ambitionierte Funktionäre unumgänglich geworden. Schwindet der Zuspruch der Wähler, schrumpft die Chance, in den Wahlkreisen Direktmandate zu gewinnen. Wer dennoch in die Parlamente strebt, benötigt einen vorderen Platz auf den Reservelisten.

Diese Plätze vergibt die Partei. Um auf den Reservelisten weit vorne zu landen, müssen die Kandidaten weniger die Wähler im Wahlkreis umwerben als jene Parteifreunde, die auf den Parteitagen die Listenplätze vergeben.

Die Belange der Partei

In weiten Teilen der Republik kann die SPD kein Direktmandat mehr gewinnen. Mehr als 60 Prozent ihrer Bundestagsabgeordneten rutschten über die Reservelisten ins Parlament. Dieser Umstand prägt die Mentalität und das Verhalten vieler Abgeordneten.

Schrumpfende Wahlergebnisse und Umfragewerte kosten und bedrohen Listenplätze und gefährden die Existenzgrundlage vieler Berufspolitiker. Für Listenkandidaten ist das Binnenleben der Partei der Ernstfall der Politik. Für einen aussichtsreichen Listenplatz brauchen sie weniger das Vertrauen der Wähler als die Zustimmung ihrer Parteifreunde. Da öffnet sich ein weites Feld für Deals, Absprachen, Intrigen und Verpflichtungen gegenüber jenen Organisationen, die der Partei nahestehen.

In der SPD haben sich vor langer Zeit Lager gebildet. Je stärker die Partei schrumpft, desto härter kämpfen diese Gruppierungen um die schrumpfende Macht und den nachlassenden Einfluss in der Partei. Interne Konflikte häufen sich. Es fällt der SPD immer schwerer, den Wählern zu vermitteln, dass die Belange der Partei auch die Belange der Gesellschaft sind.

Stückwerk statt Reformen

Die Partei neigt dazu, bereits ihre Beschlusslagen als Erfolg zu betrachten und zu verkaufen. Ob ihre Beschlüsse umsetzbar und geeignet sind, die Probleme der Bürger zu lösen, erscheint ihr zunächst zweitrangig. Oft stellt sich heraus, dass weder das eine oder das andere zutrifft. Ansehen erwirbt sich die Partei auf diese Weise bei den Wählern nicht.

Für eine Regierungspartei, die sich als Volkspartei versteht, hat dieses Gehabe fatale Folgen. Es verleitet sie dazu, umfassende Reformen mit großem Diskussions- und Veränderungsbedarf aus dem Weg zu gehen, aus Sorge, sie könnten in ihren Reihen zu Verwerfungen und Zerreißproben führen, die das Interessen- und Machtgefüge in den Partei aus dem Lot bringt und Mandate gefährdet.

Um solche Irritationen zu vermeiden oder klein zu halten, bietet die SPD gerne Teillösungen an – wie die Rente mit 63. Solche Lösungen mehren das Wohl kleiner Gruppen. Dass derartige Konzepte als Klientelpolitik erscheinen, an den Bedürfnissen der Mehrheit vorbeigehen und dem Problem in seinem vollen Umfang nicht gerecht werden, nimmt die Partei in Kauf. Doch jedes Stückwerk schafft neue Probleme. Vor allem stößt es Wähler ab.

Zur Unkultur entwickelt

Gerade die SPD ist besonders anfällig für Wählerflucht, seit ihr Kanzler Schröder mit der Agenda-Politik große Teile der Stammwählerschaft aus der Partei trieb. Sie ist einigen politisch umstrittenen Wirtschaftsbereichen besonders eng verbunden, etwa dem Bergbau, der Auto-, der Chemie- und der Energieindustrie. Die Akzeptanzprobleme dieser Branchen werden schnell auch zum Problem für die SPD. Die meisten ihrer Landesverbände sind marode. Die NRW-SPD wurde 2017 nach siebenjähriger Amtszeit abgewählt, weil nicht erkennbar war, was sie in der Landesregierung wollte.

Mit jedem Schub an Wählerschwund verschärft sich in der Partei die Konkurrenz unter den Funktionären, Mandatsträgern und Kandidaten. Es wird nach Schuldigen gesucht und über Richtungswechsel gestritten. Die Bürger gewinnen schnell den Eindruck, dass ihre Probleme aus dem Blick geraten.

Die Reform der Partei ist bisher ausgeblieben. Die Erneuerung erschöpft sich in Personalwechseln. Bei fast jeder Wahl einer neuen Spitzenkraft wird auch der Keim zu ihrem Sturz gelegt. Die Umgangsformen in der SPD haben sich zur Unkultur entwickelt, die viele Wähler abstößt.

Bald einstellig

Die Funktionäre nehmen den rapiden Verfall erschrocken wahr. Dass sie es sind, die mit ihrem Verhalten den Niedergang verursacht und beschleunigt haben, blenden sie aus. Wie kann eine Partei Vertrauen erwecken und Zulauf erwarten, die nicht mit sich ins Reine kommt?

Wähler wenden sich ab, weil sie glauben, die Geschicke der Republik seien bei der SPD nicht besonders gut aufgehoben. Eines scheint gewiss: Bleibt die Partei, wie sie ist, wird sie weiter schrumpfen. Dieser Prozess wird sich womöglich noch beschleunigen, wenn sie die Große Koalition bricht.

Sie hat bereits jenes Gewicht verloren, das sie zum Regieren braucht. Demnächst wird sie die Kraft einbüßen, die erforderlich ist, um die Opposition anzuführen. Schließlich wird es nicht mehr lange dauern, bis sie nur noch dazu taugt, die schwachbrüstige Linke ein wenig aufzupolstern. – Ulrich Horn


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8 Comments

  1. Exemplarisch für den Zustand der SPD ist deren Juso-Vorsitzender. Ein Dauerstudent, der noch nie gearbeitet hat, Marxist, weltfremd, intrigant, große Klappe und für den die sogenannte Erneuerung nur seine eigene Karriere mit entsprechender Versorgung innerhalb der Partei ist. Wenn man sich nun vorstellt, dieser Wichtigtuer trifft auf Menschen, die mit beiden Beinen fest im Leben stehen, dann versteht man, warum die SPD bald Geschichte ist.

  2. Ein guter Beitrag! Wenn ich als Partei die Welt retten will (Flüchtlinge, Klima) und es mich kaum mehr interessiert, wie meine eigene Wahl-Klientel (Arbeiterschaft, sozial schwache) eine bezahlbare Wohnung findet oder die hohen Energiepreise bezahlt, muss ich mich über derartige Wahlergebnisse nicht wundern.

  3. So ist das. Mich als altem Sozi fällt es schwer, das zu sagen: aber so sind die Tatsachen. Wahrscheinlich bin ich heute am stärksten dadurch beunruhigt, dass mir die Vorstellungskraft fehlt, was in Deutschland eigentlich passiert, wenn die Sozialdemokratie endgültig Geschichte ist. Wahrscheinlich merkt man daran, dass man alt wird. Vielleicht hat die Parteiendemokratie komplett ausgedient. Der Individualismus, auf den wahrhaftig nichts Gutes zurückzuführen ist, erfordert andere Konzepte. Nur die sind noch nicht fertig – nicht einmal in den Schubladen irgendeiner Avantgarde.

  4. Jochen Hensel Reply

    Der große Sündenfall der SPD heißt Gerhard Schröder. Seine Freundschaft zu Putin ist ja besonders entlarvend (Volker Pispers: unter seiner Krawatte glänzt das Goldkettchen). Ich glaube auch, dass der Erfolg der Grünen darauf beruht, dass keiner mehr weiß, welch verheerende Politik Joschka Fischer gemacht hat. Was heute der CDU und SPD passiert, wird in ein paar Jahren auch die Grünen ereilen, denn Stimmung ist kein Ersatz für Politik.

  5. Dr. Günter Buchholz Reply

    Wenn eine Partei sozioökonomisch eine Politik gegen ihre eigene Wählerschaft betreibt, und wenn sie zusätzlich statt für Mehrheiten für diverse Minoritäten Politik macht (Feminismus; Genderismus; Islam und Immigration), dann braucht sie sich nicht zu wundern, wenn sie abgewählt wird. Die oben genannten Personalprobleme sind zwar offensichtlich, aber im Vergleich mit politisch-inhaltlichen Punkten eher zweitrangig. Gerade die Verleugnung der Existenz politisch-inhaltlicher Probleme charakterisiert das fehlerhafte Denken der SPD und ihres Umfeldes. Und daher ist sie lernblockiert, was wiederum den weiteren Abstieg absichert.

    • Wieso kann dann aber die grüne Wünsch-Dir-Was-Wohlfühlpartei derzeit so auf einer Welle des Erfolges schwimmen? Ob das vielleicht auch ein bißchen an der Journaille liegt, die bekanntlich zu einem Gutteil den Grünen nahesteht? Und die auch Dr. h. c. Greta Thunberg großgemacht hat! Die SPD-nahen linken Journalisten gibt es heute so nicht mehr.

      • Ulrich Horn Reply

        Ich weiß nicht, was Sie mit „so nicht“ meinen. Es gibt nach wie vor den Typus „SPD-naher Journalist“. Manchen früheren und heutigen hätte Hanns-Joachim Friedrichs wohl als Propagandisten bezeichnet.

    • Horst Schulte Reply

      Das ist ja sehr oberflächlich. Als ob Politik für Minderheiten keine Rückendeckung der Mehrheit bekommen könnte. Natürlich stimmt einiges nicht mit dem, was die SPD macht und seit Jahrzehnten gemacht hat. Das hat aber völlig andere Ursachen. Ihre Wortwahl verrät Sie. So von wg. „weiteren Abstieg absichert“…

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