Der SPD geht es schlecht. Wie schlecht, zeigte sich auf dem Bonner Bundesparteitag. Bei den Delegierten, die sich dort trafen, handelt es sich vorwiegend Spitzenfunktionäre und Mandatsträger, also die Elite der Partei. Sie steckt in einer tiefen Krise. Sie ist über die Frage zerstritten: Wollen wir regieren oder opponieren? Eine Frage, die sich in einer vitalen Partei gar nicht stellt. Die SPD ist sich selbst zum Opfer gefallen.
Ohne Vollmacht
Vier Minuten nach der Bundestagswahl 2017, bei der die SPD den Anspruch erhob, den Kanzler zu stellen, verkündete sie den Marsch in die Opposition, obwohl es mit der großen Koalition eine Regierungsalternative gab.
Vier Monate nach der Wahl revidierte die Partei nun diese Position. Die SPD-Führung, die nicht regieren wollte, dringt nun darauf, es tun zu dürfen. Es wurde ihr lediglich gestattet, über eine große Koalition zu verhandeln. Vereinbaren darf sie die Koalition erst, wenn die Mitglieder grünes Licht gegeben haben. Die SPD-Führung besitzt keine Vollmacht.
Mit der Wende um 180 Grad hat sich die Parteiführung bloßgestellt. Obwohl sich in Bonn alle relevanten SPD-Spitzen vehement für den Marsch in die große Koalition einsetzten, stimmten dieser Kurskorrektur nur dürftige 56,4 Prozent der Delegierten zu. Die Autorität der SPD-Führung ist inner- und außerhalb der Partei dahin.
Naives Vorgehen
Knapp die Hälfte der SPD-Elite ist der Ansicht, die Partei sollte das Regieren unterlassen und sich besser mit sich selbst beschäftigen. Dieser starke Block nimmt eine Neuwahl in Kauf, die nach Ansicht aller Fachleute die Partei noch stärker schwächen würde.
Der regierungswillige Teil der Parteielite sieht in dieser Haltung einen Hang zur Selbstzerstörung. Er weist darauf hin, dass die SPD für einen baldigen Wahlkampf kein Geld, keinen Spitzenkandidaten, kein Programm und keine Argumente hat.
Die große Minderheit beeindrucken diese Handicaps nicht. Sie lehnt Kompromisse ab und beharrt darauf, mit 20,5 Prozent im Rücken ihre Überzeugungen zu 100 Prozent durchzusetzen. Dass dieses Vorgehen als naiv gilt, kümmert sie nicht. Auch in der Bildungsarbeit der SPD gibt es offenbar Defizite.
Sinnbilder des Verfalls
Knapp die Hälfte der Parteielite weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass die SPD trotz ihrer 450.000 Mitglieder einer Kleinpartei viel näher kommt als einer Volkspartei. Die SPD erzielt im Bund von Wahl zu Wahl immer schwächere Ergebnisse, die ihr Selbstverständnis und ihre Ansprüche immer stärker untergraben.
Konsequenzen zieht die SPD nicht. Viele Sozialdemokraten halten die SPD immer noch für eine Großmacht. Ihr Wähleranteil gibt diese Selbsteinschätzung längst nicht mehr her. Die 450.000, die demnächst darüber entscheiden, ob 62 Millionen Wahlberechtigte zur Neuwahl aufgerufen werden, sind auch nicht gerade die große Menge. In Duisburg leben zehn Prozent mehr Menschen. Längst nicht alle SPD-Mitglieder werden an der Befragung teilnehmen. Ein Teil wird für die große Koalition votieren. Am Ende könnten gerade so viele Sozialdemokraten das Bundestagswahlergebnis aushebeln, wie Bayern München Mitglieder zählt.
Zu Sinnbildern des SPD-Verfalls wurden ihre letzten drei Kanzlerkandidaten. Ihre dürftigen Umfragewerte, mageren Wahlresultate und fehlenden Koalitionsoptionen ließen ihre Ambitionen auf das Kanzleramt von Wahlkampf zu Wahlkampf immer lächerlicher erscheinen.
Ohne Konzept
SPD-Chef Schulz wurde im Laufe des Wahlkampfs bewusst, dass er als Kanzlerkandidat nicht ernst genommen wurde. Die Bürger wussten, dass er keine Chance hatte, Kanzler zu werden. Die SPD reagierte nicht – ob aus Absicht oder Ignoranz, steht dahin.
Seit der Wahl 2017 hat die SPD-Führung den Niedergang der Partei zur eigenen Entlastung an Merkel festgemacht. Jusos und SPD-Linke können beinahe widerspruchslos Konsens- und Kompromissbereitschaft diskreditieren, ohne die sich demokratische verfasste Gemeinwesen nicht gestalten lassen.
Die SPD-Spitze mied den Konflikt mit den Jusos und der Linken. Ob aus Trägheit oder aus Furcht, persönliche Nachteile zu erleiden – wer weiß? Dass der SPD-Nachwuchs die Partei einreißen will, ohne die Folgen zu diskutieren und ohne ein Konzept für den Wiederaufbau zu präsentieren, lässt für die Zukunft der SPD nichts Gutes erwarten.
Schwerer Sanierungsfall
Die Befürworter der großen Koalition beschrieben in Bonn den miserablen Zustand der Partei in derart grellen Farben, dass es manchem SPD-Parteigänger, der darauf trainiert ist, die Probleme der SPD zu verharmlosen, mulmig werden müsste. Über viele Jahre redete sich die SPD schön. Kritik wurde ignoriert und bagatellisiert. Kritiker wurden geschnitten und auch schon mal bedrängt und eingeschüchtert.
Heute kann die SPD nicht mehr darüber hinwegsehen, dass sie inhaltlich, organisatorisch und personell ein schwerer Sanierungsfall ist. Viel zu langsam wächst in ihren Reihen die Erkenntnis, dass nicht Merkel die SPD ruiniert hat, sondern die Partei sich selbst. Die SPD müsste froh sein, dass Merkel es nicht auf eine Neuwahl anlegt. Sie würde die SPD noch tiefer hinabdrücken.
Selbsttäuschung, Selbstbetrug und Schönrederei müssten ein Ende haben, forderten Funktionäre in Bonn. Die Partei müsse sich ehrlich machen. Auch mit der Profilierungssucht müsse Schluss sein. Die Vorsitzenden dürften nicht länger demontiert werden. Die Kommunalpolitik dürfe nicht länger an den Rand gedrückt werden.
Wie die FDP
Die Partei schaffe es nicht, die Kontakte zu gesellschaftlich relevanten Gruppen zu knüpfen und zu pflegen. Die Wissenschafts-, Kultur- und Kunstszene habe der SPD weitgehend den Rücken gekehrt. Langsam wird Teilen der Partei bewusst, dass sie um sich selbst kreist und auf diese Weise seit Langem den Eindruck pflegt, die Republik habe ihr zu dienen, nicht sie der Republik.
Die Warnung vor der Selbsttäuschung trug in Bonn nicht weit. Ihre Kehrtwende um 180 Grad erklärt die Parteispitze immer noch mit der Halbwahrheit, dass die SPD nun notgedrungen einspringen müsse, weil Merkel an der Jamaika-Koalition gescheitert sei.
Fakt ist: Mit ihrem Rückzug in die Opposition am Wahlabend verbaute die SPD-Führung eine der beiden Möglichkeiten, aus dem Wahlergebnis zügig eine mehrheitsfähige Regierung zu formen. Der Union blieb nichts anderes übrig, als mit den Grünen und der FDP die zweite Mehrheitsmöglichkeit auszuloten, die es im Bund noch nie gab. Das Jamaika-Experiment scheiterte, weil die FDP so regierungsunwillig war wie die SPD.
Genervte Gewerkschaften
Die Selbstverständlichkeit, mit der große Teile der SPD seit der Bundestagswahl ihre eigentümlichen Befindlichkeiten der Republik aufzwingen, nervt selbst die wenigen Verbündeten, die der Partei geblieben sind.
Die Gewerkschaften drohten der widerborstigen Partei in Bonn unverhohlen, sich von ihr abzuwenden, wenn sie sich weigern sollte, an der Regierungsbildung mitzuwirken.
Die SPD hat Probleme damit, sich unangenehmen Sachverhalten zu stellen. Die Trägheit, mit der sie es dann schließlich tut, bleibt weit hinter den Erfordernissen des Landes und den Bedürfnissen der Menschen zurück, denen die SPD vorgeblich helfen will.
Staatlich finanzierter Hobbyverein
Bei diesen Versuchen erweckt sie zunehmend den Eindruck, Klientelgruppen zu bedienen, wie man es von kleinen Parteien gewöhnt ist. Wirtschaftspolitik ist in der SPD kein Thema mehr.
Statt über die Probleme der Bürger und des Landes redet die SPD nun schon seit Wochen über sich und die Frage, ob und wie sie als Partei funktionieren soll. Vielen in der SPD scheint nicht klar, dass eine Partei, die nicht regieren will, wenn sie regieren könnte, nichts anderes ist als ein staatlich finanzierter Hobbyverein und so auch betrachtet wird.
Ob die SPD-Mitglieder den Entwurf des Koalitionsvertrages billigen, ist ungewiss. Die Jusos laden alle Gegner Merkels, der Union und der großen Koalition dazu ein, SPD-Mitglied zu werden, um bei der Befragung gegen die Regierungsbeteiligung zu stimmen. Der Aufruf kommt der Aufforderung gleich, die SPD zu unterwandern. Die Gewerkschaften werden in nächster Zeit sicher Druck in die Gegenrichtung machen. Manchem Genossen wird wohl bedeutet werden, dass sein Mandat und sein Parteiposten nicht zwangsläufig an seine Person gebunden sind. In der SPD tobt der Bär. Da kann der Bürger nur staunen. – Ulrich Horn
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6 Comments
Statt hier andauernd über die SPD zu jammern, sollten Sie in sie eintreten und sie auf Ihren Kurs bringen. Sie wissen doch, was für die Partei richtig ist. Als Mitglied können Sie dann sofort und direkt per Basisvotum für die Groko stimmen.
Besten Dank für den Rat. So rasant, wie sich die SPD seit dem Amtsantritt von Martin Schulz verändert, weiß man doch gar nicht, in welche Partei man da einträte. 😉
Lieber Arnold, ich bin politisch oft anderer Meinung als Ulrich Horn
http://extradienst.net
finde es aber dennoch nützlich, wenn mir auf dem Spielfeld ein langjähriger Beobachter von der Tribüne sagt, was er gesehen hat. Auf dem Spielfeld entsteht schnell betriebsblinde Hektik, da hilft eine andere Perspektive oft weiter. Es müssen nicht immer alle das Gleiche machen, jede*r das, was er oder sie am besten kann.
Die Jusos wollen mit ihrer NoGroKo-Kampagne die SPD also unterwandern! Ein netter Scherz, aber doch an der Realität vorbei. Die braven Jusos anno 2017/2018 wollen die SPD nur wieder sozialdemokratisch machen. Kein Vergleich zu den stark ideologisierten Jusos der 1970er Jahre, die die SPD damals vielleicht wirklich unterwandern wollten. Einer der ihren, ein gewisser Gerhard Schröder, war seinerzeit sicherlich radikaler als ein Kevin Kühnert das heute ist.
Und warum muß eine Volkspartei wie die SPD eigentlich immer mitregieren
, um vernünftig Politik machen zu können? Wenn’s denn so wäre und „Opposition Mist ist“ – man beachte die Geringschätzung von Oppositionsparteien und des gewählten Parlaments -, könnte man Merkel ja zur Kanzlerin auf Lebenszeit ernennen und sich das zeitraubende Demokratiegedöns gleich einmal sparen.
Dieses ganze Spektakel erinnert mich an das Fangeschrei im Fußball, wenn der eigene Verein nicht performt und im Tabellenkeller hockt. Dann kommen von der Fanbasis auch immer die „guten“ Vorschläge: Lass uns absteigen, Vorstand raus, Spieler raus und mit der eigenen Jugend alles neu aufbauen und zurück in die 1. Liga!
Dumm nur, dass diese schöne Radikalreform fast nie so funktioniert. Man möge in Bochum, Nürnberg oder bei RWE und RWO nachfragen. Wer oben nicht mehr mitspielt, der wird meistens auch schnell obsolet.
Dass die Oppositionsbänke ein Jungbrunnen für gute und frische Ideen sein sollen, das kann ich weder bei den Grünen noch bei den Linken erkennen. Und neue Wählerschichten erschließt man dort scheinbar auch nicht.
Sehr geehrter Herr Horn,
Sie schreiben:
-dass die SPD trotz ihrer 450.000 Mitglieder einer Kleinpartei viel näher kommt als einer Volkspartei. Die SPD erzielt im Bund von Wahl zu Wahl immer schwächere Ergebnisse…-
Bereits seit 1976 verliert die SPD Mitglieder. Zwischen 1990 und 2016 im Durchschnitt ca. 35.000/Jahr. Trotzdem konnte sie zwischen 1998 und 2005 den Kanzler stellen.
Nach dem Wechsel von Brandt (1974) zu Schmidt stieg die Mitgliederzahl bis 1976 an um dann unaufhaltsam zu sinken.
https://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/zahlen-und-fakten/138672/mitgliederentwicklung
Niedermayer, Oskar, Parteimitglieder in Deutschland, 2017 Daten
Kann es sein, dass der Eindruck den eine „Führungsfigur“ bei den Wählern hervorruft entscheidender ist als die Mitgliederstärke einer Partei?
-Die Vorsitzenden dürften nicht länger demontiert werden.-
Pappnasen darf man gar nicht erst aufstellen.
-Kritiker wurden geschnitten und auch schon mal bedrängt und eingeschüchtert.-
Da denken Sie wohl an Frau Ypsilanti, oder Herrn Lafontaine?
-Die Gewerkschaften drohten der widerborstigen Partei…-
Schwindende Mitgliederzahlen verzeichnen übrigens auch die CDU, Kirchen und der DGB.
-Wirtschaftspolitik ist in der SPD kein Thema mehr.-
„Wenn Andrea Nahles nun also die Betriebsrenten in Form der Entgeltumwandlung ausbaut, schwächt sie damit die gesetzliche Rentenkasse weiter. Sie erweist sich damit als würdige Nachfolgerin von Walter Riester.“
Nachdenkseiten. 11. November 2016 um 9:47 Uhr | Verantwortlich: Jens Berger
Die Rentengehirnwäsche
http://www.nachdenkseiten.de/?p=35780
Da gab es ja doch ein Thema.
-Manchem Genossen wird wohl bedeutet werden, dass sein Mandat und sein Parteiposten nicht zwangsläufig an seine Person gebunden sind.-
Da wären wir wieder bei Ypsilanti und Lafontaine, und den Stalinisten.