Die Unterhändler der vier Jamaika-Parteien sind nicht zu beneiden. Einerseits müssen sie dem Wahlergebnis und dem Verfall der SPD Rechnung tragen: Nur die vier Jamaika-Parteien können eine mehrheitsfähige Regierung bilden. Andererseits erwarten die Aktivisten dieser Parteien, dass Anliegen gerade ihrer Partei in der Jamaika-Koalition ungetrübt zum Ausdruck kommen. Beide Umstände sind unvereinbar.

Übertriebene Befürchtungen

Jamaika kommt nur zustande, wenn die Parteien Kompromisse schließen. Sie zu finden fällt schon schwer, wenn nur zwei Partner beteiligt sind. Noch schwerer wird es, zwischen vier Parteien Einvernehmen herzustellen. Immerhin haben alle Jamaika-Parteien vor der Wahl betont, mit allen nichtradikalen Parteien kooperieren zu können. Wenn das ernst gemeint war, gilt es nun, die Probe aufs Exempel zu machen.

Kompromisse bereiten vor allem den Unterhändlern Probleme. Wer verhandelt, muss gute Resultate präsentieren. Gut sind Ergebnisse, wenn sich die eigene Partei vorteilhaft ins Licht gesetzt sieht. Unterhändler sorgen sich schnell, Parteifreunde könnten das Ergebnis negativ bewerten. Diese Sorge ist allen Verhandlungspartnern anzumerken. Sie verursacht die Irritationen, die bisher die Koalitionsgespräche begleiteten.

Befürchtungen, Ergebnisse könnten in den eigenen Reihen nicht akzeptiert werden, haben sich in der Geschichte der bundesdeutschen Koalitionsverhandlungen stets als übertrieben erwiesen. Der eine oder andere Funktionär mag unzufrieden geknurrt haben. Am Ende waren die meisten in den Parteien doch erleichtert, wenn die Verhandlungen beendet waren und sich die neue Regierung in Marsch setzen konnte.

Nur ein Ausschnitt

Bislang haben die Jamaika-Parteien jene Positionen abgeklopft, mit denen sie ihre Identitäten definieren und sich voneinander abheben. Es ist die Summe dieser unterschiedlichen Binnenwelten, die das Schauspiel in Gang hält, das sich Tag für Tag auf der politischen Bühne neu sortiert. Was sich dort bisher aneinander rieb, soll sich nun zur Kooperation formieren. Dieser Annäherungsprozess fällt allen vier Parteien schwer.

Jede hat ihre Identität in den bisherigen Gesprächen wie eine Monstranz vor sich hergetragen, am lautesten die drei kleinen. Dabei wissen auch deren Wähler, dass diese Identitäten begrenzt sind und nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit abdecken und obendrein auch noch ziemlich volatil sind.

Die Union behauptete lange, Deutschland sei kein Einwanderungsland, obwohl sie Zuwanderern die Türen öffnete. Nun will sie die Einwanderung regeln. Lange gehörten auch Wehrpflicht und Kernkraft zu ihrer Identität, bis sie beide Markenzeichen abschaffte. Die FDP verlor ihr Profil. Sie brauchte vier Jahre, um ihre Identität zu erneuern. Die Grünen sind von einer Anti-Parteien-Partei zu einer Alt-Partei geronnen.

Ein Zeichen von Schwäche

Von Wahl zu Wahl wird deutlicher, dass die Identitäten die Parteien immer weniger tragen. Weder CDU, CSU, FDP noch Grüne schaffen es bei Bundestagswahlen, die absolute Mehrheit zu gewinnen. Die Identität der CDU sprach bei der jüngsten Wahl nur 26,8 Prozent der Wähler an. Bei der FDP waren es 10,7 Prozent, bei den Grünen nur 8,9 und bei der CSU bezogen auf den Bund nur 6,2.

Stellt man die Wahlberechtigten in Rechnung, verlieren die Identitäten noch stärker an Bedeutung. 23,8 Prozent gingen nicht zur Wahl. Die Nichtwähler fühlten sich von keiner Partei und ihrer Identität angesprochen. Sie stellen nach den CDU-Wählern die zweitgrößte Gruppe. Sie ist zehn Prozent stärker als die SPD und nur wenig schwächer als CSU, FDP und Grüne zusammengenommen.

Mit der Attraktion der Parteien ist es nicht weit her. Um diesen Zustand zu ändern, streichen sie ihre Identität heraus. Sie hoffen, Mitglieder und Wähler zu gewinnen. Doch wie viele Wahlberechtigte lesen schon Parteiprogramme? Mehr als mit ihrer Identität können Parteien mit der Glaubwürdigkeit und Kompetenz ihrer Führungskräfte punkten. Sich ständig auf seine Identität zu berufen, ist ein Zeichen von Schwäche.

Eigene Fehler bejammern

Keine Partei kann ihre Identität gegen die der anderen durchsetzen. Je stärker Parteien ihre Identität betonen, desto weiter entfernen sie sich von Kompromissen zur sachgerechten Lösung der Probleme. Viele entstanden, weil die Parteien Lösungen weniger an sachlichen Erfordernissen als an ihren Wählern ausrichteten. Deren Interessen decken sich nicht zwangsläufig mit dem sachlich Gebotenen.

Die Liste der Fehlleistungen ist lang. Der Dieselskandal, die verschleppte Mobilitätswende und der Zusammenbruch der Straßeninfrastruktur sprechen Bände. Die Schulen sind schlecht ausgestattet. Das Schulsystem arbeitet ineffizient. Auch dass Dörfer veröden, in Großstädten Wohnungen fehlen und die Kosten des Wohnungsbaus explodieren, hat nichts mit geheimen Kräften zu tun. Diese Defizite sind die Folge von Entscheidungen der Parteien.

Die Schwierigkeiten, auf die sie in den Jamaika-Gesprächen stoßen, haben sie durch unausgegorene Entscheidungen und Mangel an Umsicht mitbewirkt. Alle vier regierten in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit. Kein aktuelles Problem entstand erst im vergangenen Jahr. Wenn sie darüber jammern, wie mühsam doch ihre Gespräche gerade sind, jammern sie über sich und ihre Fehler.

Im Kururlaub

Die Grünen hätten ab 2013 mitregieren und für eine bessere Klimabilanz sorgen können. Sie ließen das Klima Klima sein und verweigerten sich einer Koalition mit der Union. Gleich zweimal saßen sie ihrem Strategen Trittin auf. Er setzte durch, dass die Grünen im Wahlkampf 2013 wider alle Umfragen Rot-Grün propagierten. Er riet von einer schwarz-grünen Koalition ab. Sie hätte ihn sein Gesicht und Gewicht gekostet.

Das Bundestagswahlergebnis 2017 ist eindeutig. Es ermöglicht zwei Mehrheitsregierungen: Jamaika und die große Koalition. Die SPD weigert sich zu regieren. Sie redet sich ein, die Wähler hätten ihr 20,5 Prozent gegeben, damit sie sich in der Opposition vom Regieren erholen kann. Sie hat sich in den Kururlaub verabschiedet und behauptet, sie diene auf diese Weise dem Gemeinwohl. Dabei weiß jeder: Sie hat sich selbst kastrierte und versucht nun, ihre Insuffizienz zu verschleiern. Mancher in den Jamaika-Parteien, der sich gegen Kompromisse sperrt, sehnt sich offenbar sehr stark danach, es der SPD gleichzutun.

Dabei kommen die Jamaika-Parteien gar nicht umhin, ihr Unbehagen zu überwinden und sich einzugestehen: Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich zusammenzuraufen. Koalitionsverhandlungen werden üblicherweise aus freien Stücken geführt. Die Beteiligten behalten sich vor, die Verhandlungen notfalls zu beenden.Im besten Fall steht dann eine Alternative für eine andere Mehrheit bereit. Doch so liegen die Dinge derzeit nicht.

Sich selbst schaden

Die Alternativen zu Jamaika sind Minderheitsregierung und Neuwahlen. Es handelt sich um Notlösungen für den Fall, dass sich die Jamaika-Parteien als kompromissunfähig und damit als politikunfähig erweisen. Beide Auswege verbieten sich.

Minderheitsregierungen werden den Problemen nicht gerecht. Sie verleiten Regierungsparteien zum Opportunismus und gestattet der Oppositionsmehrheit Gestaltung ohne Verpflichtung. Neuwahlen dürften viele Wähler als Ohrfeige empfinden. Sie könnten zurückschlagen. Wer Jamaika verhindert, muss damit rechnen, bei Neuwahlen abgestraft zu werden. Dass die SPD Gefahr läuft, marginalisiert zu werden, dürften viele Bürger noch verschmerzen.

Dass die AfD dann wohl anwachsen wird, eher nicht. Ein Wahlkampfthema, das ihr viele Wähler zutreiben wird, hat sie bereits: Sie verlangt, Umgehend die vielen syrischen Flüchtlinge zurückzuschicken, deren Berechtigung, sich in Deutschland aufzuhalten, rechtlich begrenzt ist und nun ausläuft. – Wen seine Identität daran hindert, mit Kompromissen Jamaika zu ermöglichen, lebt riskant. Er schadet sich im Zweifel selbst. In Österreich wollen Konservative und Rechtsradikale koalieren. Weit weg liegt Österreich nicht. – Ulrich Horn


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9 Comments

  1. Roland Appel Reply

    Wie blind muss man als Sozi eingentlich sein, um nicht erkennen zu wollen, dass die SPD sehr wohl eine dritte Alternative hätte: Eine Koalition aus SPD, Linken, Grünen und FDP hätte 369 Stimmen und könnte damit regieren. Ich finde es interessant, dass nicht nur die angeblich „neutralen“ Umfrageinstitute dies schon am Wahlabend ausblendeten, aber alle anderen auch diese primitive Tatsache verdrängen. Könnte es sein, dass selbst ein kritischer Geist wie Ulrich Horn sich dem engstirnigen Diktat der Lindner-FDP und den Beton-Sozis des rechten Flügels so sehr unterwirft, dass er nicht mal wagt, diese offensichtliche Möglichkeit auch nur einmal zu erwähnen?

    • Sabine Boos Reply

      Lieber Herr Appel, da ist wohl der Wunsch Vater des Gedanken. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die FDP so eine Koalition eingehen würde. Das käme politischem Selbstmord gleich…

      • Ulrich Horn Reply

        Sehr geehrte Frau Boos, Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund. Ich kann mich Ihnen nur anschließen. Zu meiner Verblüffung übersieht Herr Appel auch, dass man mit der SPD derzeit nichts vereinbaren kann, weil die Partei weitgehend desolat ist.

        • Martin Böttger Reply

          „Unrealistisch“ ist Vieles, das berühmte Tina-Prinzip: There is no Alternative. (Politische) Fantasie ist aber nicht verboten, sondern sogar erforderlich. Warum, das haben Sie Herr Horn doch mit ihrem Text bestens begründet 😉

    • Den alten Traum von R2G mit Hilfe der FDP weiterträumen? Wer wollte danach wohl noch seine Stimme für die FDP abgeben…

  2. Roland Appel Reply

    Es mag ja zutreffen, was Sie über die SPD sagen, aber es ist doch ein trauriger, peinlicher und politisch substanzloser Zustand einer FDP, wenn sich diese offensichtlich nur als rechte Blockpartei von Gnaden der CDU versteht. Ihr billigt man das zu, mutet aber den Grünen an, mit selbstzerstörerischem Mut mit diesem Rechtsblock aus staatspolitischer Vernunft zu koalieren? Seltsam.

    • Ulrich Horn Reply

      Ich las in einer Umfrage, dass 80 Prozent der Anhänger der Grünen die Jamaika-Koalition wollen. Niemand zwingt die grünen Funktionäre, ihren Anhängern zu folgen. Ich frage mich, warum niemand in den Reihen der Grünen eine rot-rot-grün-gelbe Koalition zum Thema macht? Liegt das möglicherweise daran, dass es von den Anhängern der Grünen bis zu denen der FDP und zurück gar nicht so weit ist? Manche trennt offenbar nur jeden Morgen der Küchentisch. 😉

  3. Wer die Grünen heute noch dem linken politischen Lager zurechnet, sollte sich nur einmal an die Schauerjahre von Schröder/Fischer zurückerinnern. Dann dürfte er bemerken, daß die Grünen schon lange nicht mehr „links“ sind!

    Und den staatspolitischen ewigen Mitregierern möchte ich widersprechen, was deren pauschale negative Wertung von Minderheitsregierungen betrifft. Andere Länder haben lange Erfahrungen mit funktionierenden Minderheitsregierungen.

    Außerdem sollte man dem „Filosofen Müntefering“ nicht auf den Leim gehen, der einmal gesagt hat, daß Opposition Mist sei. Wer so denkt, hat die Demokratie nicht verstanden!

    Freilich leben wir heutzutage mehr in einer Lobbykratie …

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