Ist Europa handlungsfähig? Die 28 Mitgliedsstaaten benutzen die Union vor allem, um ihr nationales Interesse zu befriedigen. Größeren Belastungen halten sie nicht stand. Statt die Zuwanderung als gemeinsame Herausforderung zu begreifen, ziehen sich viele in ihre Nationalstaatlichkeit zurück. Sie schotten sich ab – vor den Zuwanderern und EU-Partnern.

Verantwortungslos zugeschaut

Dieser Zustand sollte mit ihrer Mitgliedschaft in der in der Union eigentlich überwunden werden. Das Ziel wurde verfehlt. Die meisten EU-Staaten versuchen, die Zuwanderung von sich wegzuhalten. Sie glauben, wenn sie sich abgrenzen, könnten sie Kosten vermeiden und ihre nationalen und kulturellen Eigenheiten bewahren.

Das Bedürfnis ist so stark, weil die EU in den vergangenen Jahren Entwicklungen in ihrer Nachbarschaft weitgehend ausblendete. Sie beschäftigte sich vorwiegend mit sich selbst. Auf Konflikte jenseits ihrer Grenzen reagierte sie unzureichend. Lange tat sie, als gingen sie die Krisen im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika nichts an. Die Zuwanderung weckt Befürchtungen und deckt Defizite auf.

Dabei kamen die Flüchtlinge nicht über Nacht. Italien und Griechenland mühen sich seit Langem mit ihnen ab. Die übrigen EU-Staaten sahen tatenlos zu. Sie nahmen in Kauf, dass über die Jahre das Mittelmeer zum Massengrab wurde.

Als Aggressoren behandeln

Sie rechtfertigen sich mit der Rechtslage, die Griechenland und Italien Pflichten aufbürdet, aber dem Ausmaß der Zuwanderung längst nicht mehr gerecht wird. Sie hat die Wucht einer Völkerwanderung angenommen, die alle rechtlichen Regelungen aushebelt. Die EU-Staaten haben die Krisen und ihre Folgen unterschätzt und leichtfertig versäumt, ihre Politik auf sie auszurichten.

Jeder weiß: Das Massensterben im Mittelmeer lässt sich auf Dauer nicht verdrängen. Dennoch halfen die EU-Staaten nur halbherzig. Bemühungen, die Zuwanderung zu steuern, blieben aus. Sie blieb ein Randthema, bis immer mehr Zuwanderer immer näher heranrückten und an der österreichisch-ungarischen Grenze eine Katastrophe drohte. Sie hätte die EU für immer besudelt.

Die Zuwanderung macht deutlich, wie hilflos die einzelnen EU-Staaten sind. Kein EU-Staat für sich allein kann sie bewältigen. Auch jene, die sich der Zuwanderer erwehren, werden an Grenzen stoßen. Wer Zuwanderer nicht will, muss sie wie Aggressoren bekämpfen, gefangen nehmen und auch ihr Leben aufs Spiel setzen.

Brandherde austreten

Wer das nicht will, muss Lösungen suchen, die das Los der Flüchtlinge und die nationalen und europäischen Interessen in Einklang bringen. Solche Lösungen kann kein einzelner EU-Staat erwirken. Diese Aufgabe kann nur die Gemeinschaft bewältigen.

Selbstisolation erscheint unter den Bedingungen globaler Mobilität und Kommunikation aussichtslos. Sie sorgt nur dafür, dass sich die Probleme, die mit der Zuwanderung einhergehen, dramatisch vergrößern. Vorkehrungen zu ihrer Steuerung und Bewältigung wurden sich nur verzögern.

Lange sah Europa zu, wie sich die staatlichen Strukturen in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten auflösten. Erst seit die Zuwanderer Zentraleuropa erreicht haben, nimmt Europa die Ursachen der Völkerwanderung zu Kenntnis. Erst jetzt macht es sich daran, die Brandherde auszutreten, die zur Massenflucht führten. Ohne sie gäbe es diese Befriedungsversuche nicht.

Nicht gestaltungsfähig

Jeder einzelne EU-Staat für sich kann zur Lösung der Krisen nur wenig beitragen. Das politische Gewicht der meisten EU-Staaten ist viel zu gering. Die EU zählt ein halbes Dutzend mittelgroße Staaten und 22 Kleinstaaten. Die meisten können sich ohne die EU kaum behaupten.

Sie sind so klein, dass ihre Bevölkerung in großen Staaten wie China, Indien oder den USA nur Großstädte füllen würde. Regierungschefs wie Griechenlands Tsipras oder Ungarns Orban vertreten so viele Bürger wie andernorts Bürgermeister. Was in den meisten EU-Staaten geschieht, ist global betrachtet ohne Belang und findet weltweit auch kaum Resonanz.

Die einzelnen EU-Staaten erscheinen so schwach wie die deutschen Kleinstaaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jeder EU-Staat hat zwar einen Außenminister, kann aber den Gang der Dinge nicht prägen. Schon gar nicht könnte er allein die Lösung der Konflikte bewirken, vor denen so viele Menschen fliehen.

Konkurrenz- und Verlustängste

EU-Staaten, die sich abschotten, sparen zwar Ressourcen, verlieren aber Perspektiven. Viele ihrer leistungsfähigen Bürger werden sich ihren Lebensmittelpunkt über kurz oder lang dort in der EU suchen, wo sich ihnen die größten Chancen bieten. Der Prozess der Europäisierung der EU-Völker hat längst eingesetzt. Die Wirtschaftskrise Ende des vergangenen Jahrzehnts hat ihn beschleunigt. Die Zuwanderung wird ihn dynamisieren.

Auf Vorbehalte stößt sie in den Unter- und Mittelschichten. Menschen, die in gesicherten Verhältnissen leben, artikulieren ihre Verlustangst nachdrücklich. Sie sorgen sich um ihre Altersversorgung und die Zukunft ihrer Kinder. Sie fühlen sich bedroht. Ihre Ängste werden für zuwanderungsfreundliche Regierungschefs wie Merkel zum Risiko.

Die Zuwanderung markiert einen Umbruch. Man kann ihn begrüßen, ihn über sich ergehen lassen oder ihn ablehnen. Verhindern kann man ihn kaum. Deshalb wären die EU-Staaten gut beraten, ihn gemeinsam zu gestalten. Umbrüche bringen nicht nur Beschwernisse. Sie eröffnen auch Chancen. Über sie liest und hört man bisher noch sehr wenig.

Entwicklung nicht zu stoppen

Die Integration könnte ein großes Investitionsprogramm werden. Es könnte die Wirtschaft beleben, zur Reform der Bildungseinrichtungen, der Administration und ihre zahlreichen Systeme führen und sie effektiver machen, auch in Bayern. Verhält sich Europa heute so widerstrebend wie vor Jahren beim Zuzug der Türken und Algerier, wird es die Probleme vergrößern, die schon diese frühen Zuwanderer haben und verursachen.

Europa ist längst mit Nordafrika, mit dem Nahen und dem Mittleren Osten verbunden. Es lebt seit Langem mit diesen Beziehungen, ohne sie sich bewusst zu machen. Bei jedem Tankstopp könnten sich EU-Bürger an sie erinnern. Sie fallen ihnen erst ein, wenn der Ölpreis stark steigt oder fällt. Sie haben gravierende Umbrüche bewirkt. Über dem Ölimport ist der Bergbau geschrumpft und das Ruhrgebiet verarmt, aber die deutsche Exportwirtschaft aufgeblüht.

Mit der Zuwanderung werden die Beziehungen zu den Ländern an Europas Grenzen enger. Diese Verbindung kann nicht nur Europa, sondern auch Nordafrika, den Nahen und den Mittleren Osten verändern. In welchem Umfang, liegt auch an der Entschlossenheit Europas. Die EU-Staaten, die sich abschotten, werden diese Entwicklung nur bremsen, aber nicht stoppen können. – Ulrich Horn


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14 Comments

  1. Sehr geehrter Herr Horn,
    in diesen aufgeregten Zeiten ist Ihr so ausgewogener, kluger Artikel Balsam auf meine Seele. Danke!

  2. Hubertus Bruch Reply

    Guten Morgen Herr Horn,
    wir können Ihrer Analyse nur zustimmen. Wenn die derzeitige Situation uns zweierlei zeigt, dann erstens: Es gibt Europäer, denen sind unsere gemeinschaftlichen Werte in Europa wichtig. Die nehmen, wie unsere Kanzlerin, diese Werte zu 100 % ernst und handeln danach. Dann gibt es diejenigen, die sich zwar Europäer nennen und sich und den Friedensnobelpreis feiern, die aber eigentlich nur Materialisten sind und versuchen, wenn es darauf ankommt, sich in Vogel-Strauß-Manier zu verstecken. Das ist für jeden von uns, der den europäischen Gedanken lebt, eine bittere Erkenntnis.
    Zweitens glauben wir bei der aktuellen Völkerwanderung, wir könnten bestimmen, wer kommt oder geht. Da zeigt uns inzwischen die Realität ein anderes Bild. Denn nicht wir, sondern die Flüchtlinge werden bestimmen, wann der Strom abebbt. Das wird dann sein, wenn sich die Situation in anderen EU-Ländern besser darstellt, als bei uns. Somit ist die Solidaritätsverweigerung gegenüber Deutschland lediglich ein Pyrrhussieg. Die Flüchtlingsströme werden in den kommenden Jahren auch in diese Länder ziehen.
    In der Konsequenz bleibt uns nur die Wahl, die Entwicklungen zu begleiten. Nicht nur hinsichtlich der wirtschaftlichen, sondern insbesondere der gesellschaftlichen Integration. Denn eins ist auch so sicher wie das Amen in der Kirche: Die Zukunft Europas wird stark islamisch geprägt sein. Es wird dann an uns liegen, ob wir das laizistisch gestaltet bekommen oder ob wir zukünftig ein Gesellschaftsmodell bekommen, das die aktuelle Situation mitausgelöst hat.

  3. grafiksammler Reply

    Guten Tag Herr Horn, guten Tag Herr Bruch,

    meiner Meinung nach setzt die Analyse heute nicht bei den Ursachen an. Ursachen für die Völkerwanderung sind doch einerseits die EU-Vereinbarungen mit vielen afrikanischen Ländern, die deren Landwirtschaft und industrielle Produktion unwirtschaftlich gegenüber Importen entsprechender Güter aus dem EU-Raum macht. Wir Europäer haben aus kurzsichtigen Erwägungen zwar unseren Export in diese Länder gesteigert und hier Arbeitsplätze und Gewinne gesichert, die dortige Bevölkerung aber verarmen lassen. Andererseits haben die USA viele afrikanische und asiatische Länder durch Krieg destabilisiert. Beides zusammen ergibt die derzeitige Völkerwanderung. Vorgestern schwafelte Herr Stoiber im Talk bei Jauch davon, dass es alternativlos sei, Dublin II wieder Inkraft zu setzen. Sieht so Einsichts- und Lernfähigkeit aus? Ihre Feststellung: „Entwicklung nicht zu stoppen“ ist daher richtig.
    Gerade haben die USA gelernt, dass ihre Forderung „Weg mit Assad“ nicht mehr der Realität entspricht. Wir müssen uns allerdings heute mehr denn je die Frage stellen: Führen uns unsere amerikanischen Freunde über kurz oder lang nicht nur in einen Wirtschaftskrieg, indem riesige Menschenmassen nach Westeuropa gelenkt werden, sondern auch in eine kriegerische Auseinandersetzung, die wir nicht wollen. Die NATO ist längst kein Verteidigungpakt mehr, sondern seit Jahren aggressiv auf Machterweiterung und Angriffsvorbereitung tätig. Auch dies ein Gesichtspunkt, der nicht ausgeblendet werden darf. Wenn Europa eine Zukunft haben will, dann müssen wir uns unabhängiger von den USA machen und auch mit Russland zusammenarbeiten.

    • Hubertus Bruch Reply

      Hallo Grafiksammler,
      inwiefern die Wanderungsbewegungen auf unserem (deutschen) Witschsftssystem beruhen, kann man sicherlich nächtelang diskutierten. Eins steht auf jeden Fall fest: Die aktuelle Destabiliesierung des europäischen Wirtschaftsraums, und damit einem der großen Konkurrenten, kommt der Weltmacht USA nicht ungelegen. Zusätzlich dürfen wir damit die „Kosten“ des Stellvertreterkrieges zahlen, den die USA/Israel, Russland, Iran und Saudi-Arabien dort veranstalten.
      Zudem kann man sich mal fragen, wer da im Sommer quasi den Schalter umgelegt hat, so dass sich die Massen in Bewegung gesetzt haben. Auch hierzu gibt es ganz unterschiedliche Thesen – wovon einige auch die USA einbeziehen.
      Und zu Ihrem Vorschlag: Da Russland aktuell nichts anderes als eine chauvinistische, aggressive Mittelmacht ist, gehe ich nicht davon aus, dass Europa dort sein Heil finden wird. Uns bleibt letztendlich nur die Möglichkeit, uns (Europa) selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Und da kann ich dann nur auf den Artikel von Herrn Horn verweisen, der das bisherige, klägliche Scheitern der beteiligten Länder treffend aufzeigt.

      • fleischmann Reply

        Lieber Herr Bruch, es ist sicherlich nicht korrekt und bedient den herrschenden Tenor, Russland als chauvinistische, aggressive „Mittelmacht“ zu bezeichnen. Wer auf dieser Erde ist wohl der „Agressor“?

    • fleischmann Reply

      Lieber Herr Grafiksammler, vielen Dank für ihren Beitrag, der genau zeigt, wo die Ursache der Völkerwanderung liegt und endlich einmal betitelt, was die „Ursachenbekämpfung“ beinhalten muss und… hinter allem steht nun mal die Macht, die die Destabilisierung in diesen rohstoffreichen oder strategisch wichtigen Ländern angerichtet hat.

  4. Roland Appel Reply

    Die EU steht früher als geglaubt am Scheideweg: Vom Staatenbund zur echten politischen Union, in der annähernd gleiche Lebensverhältnisse und soziale Rechte und Pflichten Geltung bekommen und eine gemeinsame Außenpolitik und Interessenpolitik – die dann auch die militärische Komponente einschließt – entsteht, oder das Weitermachen in einem lockeren Staatenbund, der früher oder später in ein Kerneuropa und die Randstaaten, die sich weigern, Verantwortung zu übernehmen, aufspaltet. Die USA wären von letzterem sicher begeistert. Aber das Europa der gegenwärtigen Krise, in dem Solidarität eine Einbahnstrasse der Förderpolitik bleibt und ansonsten Finsterlinge wie Orban ihren Nationalismus austoben, kann nicht gutgehen.

    • Hubertus Bruch Reply

      Guten Abend Herr Appel,
      da kann ich Ihnen nur beipflichten.
      Gruß
      Hubertus Bruch

  5. Da hat er wohl zu tief ins Horn geschaut…

    Der Großteil der Flüchtlinge ist nämlich überhaupt keine Flüchtlinge. Gerade mal 10-20% kommen aus Syrien. Der Rest wird von Sorros und Co. angelockt, indem man ihnen hier ein Haus, ein Auto und einen Job verspricht. Natürlich wird von USA/UK auch mächtigst über die Medien dafür geworben. Diese Menschen werden lediglich für geopolitische Ziele benutzt. Aber da das nicht in den Kram passt, wird wieder mal von den „armen Flüchtlingen“ gefaselt.

    Tip: Nicht so tief ins Horn schauen und dafür besser recherchieren!

  6. „Schreiben Sie einen Kommentar“, sofern die Meinung wunschgemäß und genehm ist, bitte keine Gegenmeinung äußern, sonst wird zensiert. Horn zeigt sein Gesicht. Schon den 1. Test nicht bestanden. Setzen 6.

    • Ulrich Horn Reply

      Meinungen, die Recht, Gesetz und die Menschenwürde achten, sind hier willkommen. Hetze ist hier unwillkommen. Ulrich Horn

  7. walter dyrof Reply

    -Erst seit die Zuwanderer Zentraleuropa erreicht haben, nimmt Europa die Ursachen der Völkerwanderung zu Kenntnis.- Europa beteiligt sich vorsätzlich an der Entvölkerung Syriens. Und vom Michel wird christliche Demut gefordert. “Assange: WikiLeaks vorliegende Depeschen zeigen Plan zur strategischen Entvölkerung von Syrien und EU-Flüchtlingskrise. Syrer werden dazu ermutigt, ihr Land zu verlassen, „indem Deutschland zu verstehen gibt, dass es sehr, sehr viele Flüchtlinge aufnehmen wird und indem die Türkei bereits drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, und so die syrische Regierung signifikant schwächt“.“
    …Zudem weist er daraufhin, dass von WikiLeaks veröffentlichte Dokumente belegen, dass die USA bereits seit 2006 am Sturz der Assad-Regierung gearbeitet hatten.“ http://www.inamo.de/assange-wikileaks-vorliegende-depeschen-zeigen-plan-zur-strategischen-entvoelkerung-von-syrien-und-eu-fluechtlingskrise/
    Es ist ein Krieg um Öl, Gas und die damit verbundene Herrschaft des Dollars.

  8. Roland Appel Reply

    @ Toto: Ja, und die Erde ist eine Scheibe, und auf die Pegida-Demonstranten warten im Paradis 72 germanische Jungsfrauen!

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