Politiker reagieren erst, wenn ihnen die Probleme auf die Füße fallen. Nirgendwo kann man dieses Verhaltensmuster besser studieren als im Ruhrgebiet. Seit 50 Jahren redet die Region über Strukturwandel. Seit 50 Jahren geht es mit ihr bergab. Immer wieder wurden Initiativen ausgerufen, die den Absturz stoppen sollten. Alle verfehlten ihren Zweck. Der Niedergang setzte sich fort. Doch nun soll alles anders werden – zum x-ten Mal.

Wirtschaftskraft stärken

Der Initiativkreis Ruhr, eine Vereinigung von 67 großen und mittelgroßen Unternehmen, will wieder einmal das Ruhrgebiet retten. Bisher fördert er Kulturveranstaltungen und die Suche nach Talenten, ehrt Forscher, sucht den Dialog mit der Jugend und präsentiert Papiere, etwa zur Energiepolitik und zur Kooperation im Revier. Den Niedergang der Region haben diese Aktivitäten nicht gestoppt.

Nun scheint sich im Initiativkreis die Ansicht durchzusetzen, dass handfeste Dinge passieren müssen, soll der Verfall enden. Die Wirtschaftskraft der Region muss gestärkt werden. „Intakte Verkehrswege und zeitgemäße Infrastruktur, moderne Stadtviertel und leistungsstarke Logistik sind Grundlagen für den wirtschaftlichen Erfolg. Hier muss die öffentliche Hand handeln“, schrieb der Sprecher des Initiativkreises, Evonik-Chef Klaus Engel, an Bundeswirtschaftsminister Gabriel – für den SPD-Chef eine Steilvorlage, sich im Ruhrgebiet zu verankern.

Wildwuchs lichten

Der Brandbrief, mit dem Engel Hilfen der Bundesregierung einfordert, belegt die riesigen Versäumnisse von Wirtschaft und Politik im Ruhrgebiet. Keine NRW-Regierung hatte je ein tragfähiges Konzept für die Krisenregion. Sie selbst auch nicht. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte in der Region brachten es über Jahrzehnte nicht fertig, die Interessen zu bündeln und in der Landes- und Bundespolitik zur Geltung zu bringen – ein Versagen, das mehrere Generationen überspannt.

Die Ruhr-Wirtschaft kritisierte stets, der Strukturwandel gehe zu langsam voran. Nun ist sie besorgt über seine Folgen, die bei schnellerem Wandel viel schlimmer ausgefallen wären. Stets redete die Wirtschaft der Ruhr-Politik mit guten Gründen zu, das Kirchturmdenken aufzugeben. Dabei findet es sich nirgendwo stärker als in der Ruhr-Wirtschaft. Handelskammern, Unternehmens- und Branchenverbände bilden ein bürokratisches Konglomerat, das mehr damit beschäftigt ist, seinen Bestand zu wahren, als Initiativen voranzubringen. Versuche, den Wildwuchs zu lichten, sind kaum zu erkennen. Andere Regionen wie der Großraum München sind mit weniger Wirtschaftsbürokratie wesentlich effektiver.

Widerstandslos verschuldet

Die Ruhr-Politik beschränkte sich zum größten Teil darauf, über den Wandel des Ruhrgebiets zu reden. Sie schaute weitgehend tatenlos zu, wie sich die Rahmenbedingungen für die Region stetig verschlechterten. Widerstandslos verschuldeten sich die Revierstädte für den Aufbau Ost. Es reichte gerade mal für ein paar Proteste in Interviews. Längst glänzt die Infrastruktur in den neuen Ländern, während sie im Ruhrgebiet zerbröselt. Die Region ist so gut wie pleite.

Alle NRW-Regierungen ließen die Probleme im Ruhrgebiet mehr oder weniger schleifen. Während die Regierungen in prosperierenden Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg die Kommunal- und Bundespolitik miteinander abstimmen und darauf bedacht sind, zum Wohle des Landes Vorteile zu gewinnen, laufen die Politiker der politischen Ebenen in NRW seit jeher nebeneinander her, als hätten sie nichts miteinander zu schaffen.

Einfluss geschwunden

Vor allem bei den Volksparteien führen sich viele Bundestagsabgeordnete aus dem Revier so auf, als spielten sie in der Champions League. Sie trafen teure Entscheidungen zu Lasten der Städte. Das klamme Ruhrgebiet hat unter diesem Leichtsinn besonders stark zu leiden. Gerne kümmern sich die Bundestagsabgeordneten aus dem Revier um Gott und die weite Welt. Um das Ruhrgebiet sollen sich die Landes- und die Kommunalpolitiker kümmern. Sie werden von den Bundestagsabgeordneten als Kreisklasse abgetan. Die verhängnisvolle Aufgabenteilung schadet der Region. Der NRW-Landespolitik gelingt es nicht, die politischen Ebenen zu verzahnen. Sie knickte immer wieder vor der Bundespolitik ein.

Inzwischen ist nicht mehr zu übersehen: Land und Städte sind am Ende. Es ist bezeichnend, dass Engel seinen Brief nicht an Kraft, sondern gleich an Gabriel adressierte. Aus Düsseldorf ist finanziell und konzeptionell nichts mehr zu erwarten. Aus den Berliner Koalitionsverhandlungen brachte Kraft nicht Entlastungen, sondern Belastungen für NRW nach Hause. Seit sie mit Berlin brach, ist ihr Einfluss geschwunden. Da geht die Wirtschaft gleich zu Gabriel, ohne den Umweg über Düsseldorf zu nehmen.

Am gleichen Strang ziehen

Führende SPD-Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet begreifen allmählich: Die Probleme könnten sie rasch überrollen. Wollen sie vermeiden, Opfer einer solchen Entwicklung zu werden, müssen sie die Dinge selbst in die Hand nehmen. Seit einiger Zeit setzen sie ihre Bundestagsabgeordneten in der SPD-Landesgruppe unter Druck. Sie gelten zum Teil als abgehoben, problemfern und konfliktscheu. Die Kritik aus der Ruhr-SPD wird schärfer, die Frage nach dem Nutzen der Revierabgeordneten in der Landesgruppe lauter. Die Kritik nimmt auch die Landespolitik und Ministerpräsidentin Kraft nicht mehr aus.

Das aufkeimende Selbstbewusstsein der SPD-Kommunalpolitiker im Ruhrgebiet kann sich auf die Gewissheit stützen, dass die Wahlkreise für Mandate in Düsseldorf und Berlin in den Revierstädten vergeben werden – ein Druckmittel, das den Interessen der Region durchaus Nachdruck verleihen könnte. Dass sich die Durchschlagskraft gegenüber der großen Koalition in Berlin erhöhen würde, wenn die Ruhr-CDU und die Ruhr-SPD am gleichen Strang zögen, ist in beiden Lagern auch noch nicht Stand der Erkenntnis. Man darf gespannt sein, wie lange es braucht, bis diese Einsicht reift. – Ulrich Horn


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8 Comments

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  3. Jochen Hensel Reply

    Ein Beispiel für das Kirchturmdenken bietet die Stadt Mülheim: Dort wird ernsthaft darüber nachgedacht, die Straßenbahnen wieder abzuschaffen, weil sie zu teuer sind. Ein Ast einer Linie ist schon stillgelegt, auch gegen den Widerstand der Bezirksregierung.

  4. Martin Böttger Reply

    Lieber Herr Horn, geht es Ihnen nicht selbst so, dass Sie das Gefühl haben, das alles vor 5, 10, 15, 20 Jahren alles schon mal genau so geschrieben zu haben? Ich fand die Kampagne Ihrer ehemaligen Arbeitgeberin WAZ für eine „Ruhrstadt“ seinerzeit richtig, aber die drang nicht nur in der Landespolitik nicht durch, sondern wurde auch im eigenen Haus mit der Demission von Chefredakteur Knüpfer beendet. Damals war die WAZ noch eine Medienmacht – heute ist sie nur noch eine Zeitung – und drang schon nicht durch.
    Und ehe man das Ruhrgebiet zu einem politischen Machtfaktor werden lässt, lässt man es lieber vergammeln. Ein Reflex, den es nicht nur in SPD und CDU gibt. Das Ruhrgebiet selbst wehrt sich nicht. Aber das haben Sie ja oben schon beschrieben. Man wiederholt sich nur noch selbst …….

    • Knüpfer und seine Ruhrstadt, von Alpen bis nach Fröndenberg. 53 Gemeinden sollten vereinigt werden.
      Am 31.01.2011 stand auch in der WAZ, dass die Ruhrstadt tot ist.

  5. giovanni gruen Reply

    Es gibt keinen „Strukturwandel“. Seit dem Ende von Kohle und Stahl ist das Ruhrgebiet in der jetzigen Form schlicht ueberfluessig. Als Ende des 19.Jahrhunderts die grosse Einwanderung in das durch Kohle und Stahl boomende Ruhrgebiet stattfand, vervielfachte sich die Bevölkerung, jetzt wird – notgedrungen – das Gegenteil geschehen muessen.
    NRW hat auf lange Sicht keine Substanz fuer 16 Millionen? Menschen, so einfach ist das.
    Da hilft es auch nicht, lächerliche Kulturaktionen am laufenden Band zu initiieren, wo dann an Orten, die früher 10.000 Arbeitsplätze darstellten, 50 „Künstler“ auf ’ner Bühne rumhampeln – und das auch noch aus Steuermitteln finanziert. Ich wohne in Wuppertal. Seit dem Ende der Textilindustrie das gleiche Elend – Geldverbrennerei für den „Strukturwandel“, der nie kommt, nicht zuletzt der jetzt aktuelle Döppersbergumbau, Hunderte von Millionen verbrannt für genau nichts…

  6. Johannes Fischer Reply

    Gestern konnte man Frank Baranowksi, OB in GE und Häuptling der Ruhr-SPD, im WDR austeilen sehen.
    „Wichtige Dinge müssen zurück stehen“, redete er in die Kamera, „Wir haben einen Schwerpunkt z.B. immer auf Bildung gelegt und mussten deshalb aber auch andere Dinge hinten anstellen, z.B.unsere Straßensanierung.“
    Recht hat er. Aber wieso sollte man ihn, der vor wenigen Jahren einen Schwerpunkt darin sah, die letzten 25 Millionen aus dem Gelsenkirchener Stadtsäckel in den Profifußball zu stecken, damit sich Schalke seinen Raúl Gonzales Blanco leisten konnte, außerhalb Gelsenkirchens ernst nehmen?
    Das Problem des Ruhrgebiets ist doch nicht nur das fehlende Geld, sondern auch die Unfähigkeit seiner Häuptlinge, mit Geld sinnvoll umzugehen.

  7. Michael Michalski Reply

    Lieber Herr Horn, Sie sprechen mir aus der Seele oder: Ich hätte es nicht besser auf den Punkt bringen können. Die Wirtschaft lebt nach wie vor gerne in Anspruchshaltungen gegenüber der Politik, ohne die Probleme selbst lösen zu wollen. Immer mehr Initiativkreise wie der Initiativkreis Ruhr beschreiben – durchaus zutreffend in der Analyse – die Probleme des Wirtschafts- und Industriestandortes Deutschland. Ein Bemühen, Lösungsansätze aufzuzeigen, wird indes nicht erkennbar. Egal, wer wem ein Verschulden für Versäumnisse in der Vergangenheit zuweist: Politik und Wirtschaft bedingen sich letztlich, so dass beide Parteien zugunsten des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls schleunigst aufeinander zugehen müssen. Solange Politiker und Wirtschaftsführer nur Eigeninteressen zur Erhaltung ihrer Macht verfolgen, solange gesellschaftliche Verantwortungsträger ihre Egoismen ausleben und immer vom jeweils anderen fremdfinanzierte Lösungen erwarten, wird es weiter mit Deutschland den Bach herunter gehen. Die Wirtschaft fordert Investitionen, für die die Politik nie Geld hat. Wer aber 130 Mrd. Steuer-Euro nach Luxemburg verschied, darf sich nicht wirklich über einen bedingt klammen Staat wundern. Konzertierte Aktionen sind gefordert, sofort und zielorientiert. Beispiel: Die Leverkusener Rheinbrücke, die täglich mehrfach in der Beschreibung der Verkehrsinfrastrukturprobleme benannt wird – die Brücke wird gebraucht, die Brücke wird kommen. Was sollen da verwaltungs- und planungsrechtliche „Gesellschaftsspiele“. Vorliegend kann es nur heißen: abreißen und neu bauen. Egal wie teuer ein solcher Neubau „state of the art“ wird, er dürfte um ein vielfaches günstiger sein als der volkswirtschaftliche Schaden durch einen täglichen 20 km-Stau zwischen Köln-West und Burscheid bis zum Jahr 2020.

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