Den Zuschauern der Koalitionsgespräche kann man nur raten: Nehmen Sie wahr, was gesagt wird, doch nehmen Sie bloß nicht alles ernst. Die Erfahrung lehrt: Rund um solche Veranstaltungen dreschen Politiker jede Menge leeres Stroh. Mit dieser Tätigkeit versuchen vor allem ambitionierte Drittchargierte, sich aufzuplustern. Diejenigen, die zu entscheiden haben, halten – meistens – ihren Mund, bis die Dinge spruchreif sind.

Unter Druck setzen

Die Entscheider wissen: Spruchreif sind Vereinbarungen erst am Ende der Verhandlungen, wenn alle Positionen, Wünsche und Forderungen gegeneinander aufgerechnet und alle Kompromisse geschlossen sind. Diese Prozesse sind sensibel. Öffentliche Äußerungen erschweren den Abschluss oder gefährden ihn gar.

Dennoch reden rund um Koalitionsgespräche Politiker stets drauflos, was das Zeug hält. Es geht bei den Verhandlungen eben nicht nur um Ergebnisse in Sachfragen. Die Parteien und die Lobbyisten sind auch daran interessiert, die Verhandlungen zu inszenieren und sich selbst in Szene zu setzen. Sogar Koalitionsgespräche folgen Dramaturgien.

Die Parteien und ihre Unterhändler wollen ihren Mitgliedern, Anhängern und Auftraggebern signalisieren, wie hart sie für deren Interessen und Wünsche kämpfen und dabei sogar riskieren, die Verhandlungen scheitern zu lassen. Viele Äußerungen dienen auch dazu, die Verhandlungspartner unter Druck zu setzen, die eigenen Positionen zu stärken und die der anderen zu schwächen.

Den Markenkern hervorheben

Diese schräge Begleitmusik ist bei den Jamaika-Gesprächen kräftig angeschwollen. Ein Grund ist der Umstand, dass sich anders als bei den meisten Koalitionsgesprächen in den vergangenen Jahrzehnten heute nicht zwei oder drei, sondern mit CDU, CSU, FDP und Grünen gleich vier Parteien anschicken, eine Koalition zu schließen, die es in dieser Konstellation im Bund bisher noch nicht gab.

Obwohl alle vier Parteien dem bürgerlichen Lager zugerechnet werden, ist der Abstand zwischen ihnen in vielen Sachfragen beträchtlich. Die Union tritt zwar gerne als Volkspartei in Erscheinung, die daran gewöhnt ist, die vielen einzelnen Problemlagen zu einem gesellschaftlichen Ausgleich zu bringen. Doch ihn herzustellen, fällt CDU und CSU seit einiger Zeit zunehmend schwer, etwa in der Flüchtlingsfrage.

FDP und Grüne stützen sich stark auf einige Themen, die für sie und ihre Anhänger schwer wiegen. Für Grüne sind Umweltschutz, Klima und Menschenrechte von hohem Belang, für die FDP Freiheit und Selbstverantwortung, ein schlanker Staat und optimale Wirtschaftsbedingungen. Diese Markenkerne schaffen Identität. Koalitionsgespräche laden dazu ein, die Markenkerne häufig hervorzuheben. Dieser Drang fördert nicht gerade die Bereitschaft, Kompromisse zu schließen.

Den Führungsanspruch anmelden

Auch der Zustand der vier Parteien erleichtert Kompromisse nicht. CDU und CSU wurden bei der Wahl stark gerupft. Die FDP ist nach vier Jahren in der außerparlamentarischen Opposition gerade erst ins Parlament zurückgekehrt. Die Grünen wurden bei der Saarwahl aus dem Landtag in Saarbrücken geworfen und bei der NRW-Wahl in die Opposition geschickt.

Der Verlauf der Koalitionsgespräche erfährt breite Aufmerksamkeit. Die Bürger fürchten und hoffen. Sie fürchten, die Politiker könnten ihnen neue Belastungen schaffen. Sie hoffen, dass ihre Probleme angepackt werden, die zum großen Teil von Politikern verursacht oder von ihnen nicht hinreichend beachtet wurden. Die Bürger fragen sich, ob und wie sie von den Äußerungen aus den Parteien betroffen sein könnten. Die Koalitionsgespräche bieten Politikern viele Gelegenheiten, sich in den Vordergrund zu spielen und sich in ihrer Partei und bei den Interessengruppen Profil zu verschaffen. Viele nutzen die Gelegenheiten eifrig.

Doch die Bürger haben ihren eigenen Blick, wie sie jüngst wieder deutlich machten. In der CDU wurde bereits über Merkels Ende diskutiert. Nun stellt sich heraus: Sie ist nach wie vor sehr beliebt, und die Union legt in Umfragen wieder zu. Die Grünen zeigen sich in den Kaolitionsgesprächen besonders sperrig. Es stellt sich heraus: Mehr als 80 Prozent ihrer Anhänger wünschen die Jamaika-Koalition. Manches, was Politiker dieser Tage von sich geben, hat mit den Sachverhalten, über die verhandelt wird, und mit den Problemen der Bürger oft nur am Rande zu tun. Viele Äußerungen dienen mehr dem Zweck, in der eigenen Partei Flagge und Führungskraft zu zeigen.

Riskante Profilierungaktionen

Der CDU-Politiker Spahn zum Beispiel verlangt, die Rente mit 63 abzuschaffen. Er stellt die Forderung öffentlich. Er hat sie mit seinen Parteifreunden nicht abgestimmt. Sie verschafft ihm Beachtung, auch durch Widerspruch – sogar aus den eigenen Reihen.

Die Forderung öffentlich zu erheben, mindert ihre Erfolgsaussichten. Spahn nimmt das in Kauf. Er demonstriert, dass er Diskussionen anschieben kann. Die Forderung zielt nicht nur auf das Problem des Fachkräftemangels, sondern auch auf die eigenen Reihen: Spahn beansprucht, der Union die Richtung zu weisen.

Derartige Profilierungsaktionen sind riskant. Im Eifer des Gefechts laufen sie auch schon einmal schief. Blöd für Spahn: Parallel zu ihm forderte auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, die Rente mit 63 abzuschaffen. Plötzlich wirkt der Politiker als Lobbyist. Gutwilligen erscheint er als Lautsprecher der Arbeitgeber, anderen eher als deren Stiefelknecht. – Ulrich Horn


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6 Comments

  1. Koalitionsgespräche? Wieso Koalitionsgespräche???

    Die Koalitionsgespräche haben noch nicht einmal begonnen. Was derzeit durchgeführt wird, sind die SONDIERUNGSGESPÄCHE.

  2. Wie man diese Gespräche nun nennt, die letztlich in eine gemeinsame Politik einer neuen Koalition münden sollen, ist schlicht wurscht. Denn wenn die laufenden Sondierungsrunden Einvernehmen zeigen sollten, dann gelten die darin gefundenen Kompromisslinien als verbindliche Vorgaben für die abschließenden Gespräche.
    Unter uns: Ich glaube nicht an eine Einigung.

    • Ich bin sehr überzeugt davon, dass die Parteien sich einigen werden. An Neuwahlen hat niemand Interesse und alle wollen um jeden Preis regieren.

      Und am wenigsten will Merkel eventuelle Neuwahlen. Denn sollte es doch so kommen, denke ich nicht, dass sie noch einmal antreten wird.

      • An Neuwahlen könnten diejenigen Interesse haben, die sich davon einen Gewinn für ihre Partei erhoffen.

        Ich denke dabei an die FDP. Der Wahlkampf scheint schon eingesetzt zu haben. Oder wie werten Sie die Aussagen von Wolfgang Kubicki (ab morgen nachzulesen in den Zeitungen des RedaktionsNetzwerks Deutschland)? Kubicki unterstreicht zwar, „keiner wolle leichtfertig Neuwahlen“, doch er haut dann gleich auf die Wahlkampfpauke: „Aber wenn es dazu kommt, stehen wir als geschlossene Formation da, ganz im Gegensatz zur Konkurrenz.“ Und er schiebt einen typischen Kubicki nach: „Und wenn CDU und Grüne den unbegrenzten Familiennachzug vereinbaren, wünsche ich der CSU viel Spaß im Wahlkampf.“

        Ob die SPD dann noch einmal umdenkt? Kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Eher könnten CDU/CSU und FDP geneigt sein, eine Minderheitsregierung zu wagen, um dann nach einem guten Jahr auf Neuwahlen zuzusteuern. Warten wir es ab, lange kann es nicht mehr dauern, bis sich die Kubickis auf allen Seiten besinnen und beidrehen – oder das große Wagnis von Neuwahlen oder Minderheitsregierung eingehen.

  3. Zu vermuten ist zudem, dass Merkel den Kontakt zu ihren Spezis von der SPD im Kabinett weiterhin aufrechterhält.

    Falls die allzu bunte Jamaika-Koalition doch nicht zustandekommen sollte, wäre es erneut an der SPD, „staatspolitischhe Verantwortung“ zu zeigen. Das könnte aber auch bedeuten, standhaft zu bleiben und in die Opposition zu gehen. Denn dass die arg geschwächten Sozialdemokraten in einer Neuauflage der GroKo mehr sozialdemokratisches Profil zeigen könnten als bisher, ist doch eher unwahrscheinlich.

    Außerdem würde Deutschland keinen Schaden nehmen, mal von einer Minderheitsregierung aus CDU/CSU und FDP regiert zu werden. Über-Kanzlerin Angela Merkel müsste sich dann ihre Mehrheiten jeweils immer neu im Parlament organisieren und wäre gezwungen, Zugeständnisse zu machen, die sie in einer festgezurrten Koalition nicht unbedingt machen brauchte.

  4. Ein sehr genauer Artikel.
    „Die Bürger fürchten und hoffen.“ Auf mich trifft das nicht zu. Ich fürchte nichts, und Grund zur Hoffnung besteht schon überhaupt nicht.
    Es bleibt die Wahl von Pest (sie einigen sich nicht) und Cholera (sie einigen auf einem unfassbar niedrigen Level). Der SPD kann man nur raten, standhaft zu bleiben. Schon bei der Bundestagswahl 2013 habe ich es bedauert, dass Merkel nicht die absolute Mehrheit bekam, weil dann jeder hätte sehen können, wie katastrophal ihre Politik ist.
    Heute stand in der Zeitung, dass Merkel angeblich die mächtigste Frau der Welt sein soll. Da fällt mir immer Georg Schramm ein, der sagte: „Merkel ist die Kaltmamsell des Kapitals“!

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