Das Ruhrgebiet hat sich entwickelt – vom Motor der Republik zum Bremsklotz für NRW. Seit 50 Jahren darbt die Region. Jahr für Jahr wurde die Lage prekärer. Bemühungen der Kommunal- und Landespolitiker, den Niedergang zu stoppen, schlugen fehl. Das Ruhrgebiet ist zu einer führenden Armutsregion in Deutschland geworden. Seine Führungseliten zeigten sich bisher zu schwach, ihre erfolglose Politik zu ändern.

Sonnenbad in Superlativen

Die Probleme der Region zu mildern oder gar zu lösen, setzt voraus, sie zur Kenntnis zu nehmen. Die Bereitschaft, ehrlich Bilanz zu ziehen, ist im Ruhrgebiet unterentwickelt. Es redet sich gerne schön. Es sieht sich größten Ballungsraum Deutschlands, als kulturelles Zentrum von EU-Format, als größte Hochschullandschaft weit und breit.

In solchen Superlativen sonnen sich die 53 kleinen und größeren Revierstädte gerne. Dabei haben die meisten außer einigen Bushaltestellen nicht viel zu bieten. Die Städte verstecken ihre Trostlosigkeit gerne hinter dem Label Metropolregion. Es nährt die Illusion, Teil von etwas Großem zu sein. Wer die Gegend zwischen Hamm und Xanten kennt, käme nie auf die Idee, dass es sich bei Oer-Erkenschwick, Castrop-Rauxel oder Hattingen um die Teile einer Metropole handele.

Die Überhöhung des Ruhrgebiets wirkt gegen seine vielen Defizite komisch. Die Mängel sind nicht übersehen. Sie behindern die wirtschaftliche Entwicklung und erschweren längst auch das Alltagsleben. Thematisiert werden sie nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, etwa wenn die Region Hilfe einfordert und sie legitimierten muss.

Mit dem Schicksal abgefunden

Das Ruhrgebiet hat nicht nur Übung darin, nach Hilfe zu rufen. Es erträgt auch gleichmütig, dass sie nicht anschlägt. Kaum jemand stört sich daran, dass die Maßnahmen, die das Revier selbst ergriff, nicht die erhoffte Wende brachte. Warum sie verpufften und was man ändern muss, damit die Region den Wendepunkt erreicht, diskutiert das Ruhrgebiet nicht.

Die Führungselite schreckt zurück, ihr Tun und Lassen infrage zu stellen – geschweige denn, es zu ändern. Die Anregung des Bochumer CDU-Politikers Lammert, das Ruhrgebiet solle sich selbst helfen, löste 2015 große Empörung aus. Kurz darauf fand erstmals eine parteiübergreifende Abgeordnetenkonferenz im Ruhrgebiet statt. Ihr Thema: Wie mobilisiert man am besten aus Düsseldorf, Berlin und Brüssel Hilfe?

Wie man sich selbst hilft, weiß das Ruhrgebiet nicht. Die Menschen fügen sich in ihr Schicksal. Die Führungseliten preisen den Defätismus als große Leistung und verklären ihn sogar zur Mentalität der Leute im Revier: „Die Menschen im Ruhrgebiet können viel einstecken, geben aber nie auf.“

Hang zur Selbsttäuschung

Hinter diesem Mythos verbergen die Politiker ihre Untätigkeit, ihre Versäumnisse und Fehler. Er dient auch dazu, die erfolglosen Macht- und Einflussstrukturen in den Städten zu erhalten. Bis heute denken die Entscheider im Ruhrgebiet nicht daran, ihren Hang zur Selbsttäuschung zu bekämpfen.

Das Ruhrgebiet beklagt, es leide darunter, dass seine Städte die neuen Länder alimentieren müssen. Diese Aufgabe stellt sich auch den Kommunen anderer Länder. Viele Städte bewältigen sie besser als das Ruhrgebiet, weil ihre wirtschaftlichen Grundlagen und ihre politische Infrastruktur viel leistungsfähiger sind.

Zu den Reviermythen gehört auch die Behauptung, die Probleme der Region seien ihr von außen aufgedrückt worden. Richtig ist: Als Folge des Strukturwandels liegt die Zahl der Transferabhängigen überdurchschnittlich hoch. Dass dieser Zustand seit 50 Jahren anhält, hat niemand anderes als die Politik im Ruhrgebiet zu verantworten.

Politikwechsel kein Thema

Bis heute tut sie zu wenig, um diesen Skandal zu bekämpfen. Statt die private Wirtschaft anzukurbeln, verlegte sich das Ruhrgebiet darauf, die öffentliche Wirtschaft stark auszubauen. Die Kommunalpolitiker betätigen sich als Unternehmer, obwohl die meisten nicht einmal eine Bilanz lesen können. Verwaltungsbeamte ließen sich auf verlustreiche Bankgeschäfte ein, die sie gar nicht verstanden.

Ihr RWE-Aktienbesitz ermöglichte es vielen Städten, eine Infrastruktur zu betreiben, die sie sich ohne die Dividende und die steuerlichen Vorteile der Aktien gar nicht leisten können. Nun ist der Kurs im Keller. Die Dividende fällt aus. Die Städte geraten noch tiefer in den Sumpf. Obwohl sich die Hoffnung, über die kommunalen Betriebe soziale Stabilität herzustellen, als Seifenblase entpuppt, ist in den Städten die Korrektur der Politik kein Thema.

Die Ruhrpolitik ist vom gewerkschaftlich gut organisierten öffentlichen Dienst geprägt. Sie versteht Unternehmen als Finanziers des öffentlichen Dienstes und behandelt sie auch so. Statt die Rahmenbedingungen für den Ausbau und die Ansiedlung von privaten Unternehmen nachhaltig zu verbessern, um gegen nationale und internationale Konkurrenzregionen wettbewerbsfähig zu werden, haben die Revierstädte die Steuerschraube stark angezogen.

Beschimpfen und dennoch kassieren

Die hohe Grundsteuer belastet die Bürger, die hohe Gewerbesteuer die Unternehmen. Das Ruhrgebiet erschwert nicht nur den Aufbau neuer Unternehmen und das Gedeihen und Überleben der bestehenden. Die Region katapultiert sich mit ihrer Hochsteuerpolitik auch aus dem europaweiten Wettbewerb um die Ansiedlung neuer Unternehmen, mit der Begründung, man senke die Steuern nicht, weil man keinen Verdrängungswettbewerb mit den Nachbarstädten anzetteln wolle.

Als ob es darum ginge, in Düsseldorf, Siegen oder Bielefeld Bäcker, Installateure oder Friseure abzuwerben. Die Konkurrenten des Reviers sitzen in Hamburg und Berlin, Frankfurt, München und Stuttgart, in den neuen Ländern, in Holland und Österreich. Sie lachen sich über die Ruhrgebietsstädte ins Fäustchen.

Monheim zeigt, wie es geht. Es senkte die Steuern und zog Unternehmen an. Die Stadt gewann viele neue Arbeitsplätze. Die Stadtkasse ist voll. Die Nachbarstädte schimpfen, Monheim betreibe schmutzige Konkurrenz. Dennoch nehmen sie über den Solidarpakt gerne zweistellige Millionenträge aus Monheim, um ihre Haushaltslöcher zu stopfen.

Ausmaß der Zusammenarbeit im Dunkeln

Statt darüber nachzudenken, wie das Ruhrgebiet seine Wirtschaftskraft steigern könnte, redet das Ruhrgebiet lieber über Organisationsformen. Der Regionalverband Ruhr (RVR) bietet jede Menge Gesprächsstoff. Er soll Forum und Gestaltungszentrum des Ruhrgebiets sein. Dieser Aufgabe wird er nicht gerecht. Er gilt als ungelenk und unlenkbar. Es gelang ihm bisher nicht, die Balance zwischen den Erfordernissen der Region und den Interessen der Kommunen zu halten.

Das soll sich nun ändern. Die elf Oberbürgermeister und vier Landräte des Ruhrgebiets bilden einen Kommunalrat, der die Interessen der Städte und der Gemeinschaft miteinander verbinden soll. Wie schwer diese Aufgabe wird, zeigt sich am Bemühen der Städte zusammenzuarbeiten.

Kooperation gilt seit einiger Zeit als Schlüssel für die Erneuerung des Reviers. Einige Schritte wurden bereits getan. Welches Ausmaß die Zusammenarbeit angenommen hat, liegt jedoch im Dunkeln. Es gibt keine Bilanz, die festhält, was erreicht wurde. Kooperation geschieht eher sporadisch als revierweit geplant. Der Wille, die Region zu gestalten, ist nicht am Werk.

Kirchturmfetischisten in der Wirtschaft

Die 53 Revierstädte verstehen sich als Teile der Metropolregion Ruhr. Der Begriff gibt vor, die Wirklichkeit zu spiegeln. Tatsächlich aber beschreibt er nur ein Entwicklungsziel. Wie wenig das Ruhrgebiet Metropolregion ist, zeigt sein Nahverkehr. Er ist zu teuer, zu langsam, zu störanfällig und zu klein dimensioniert, seit vielen Jahren – zum Verdruss der Kunden. Seine Defizite dokumentieren Tag für Tag das Versagen der Politiker.

Selbst die private Wirtschaft hat sich der Trägheit angepasst, die wie ein Schleier über dem Ruhrgebiet hängt. Sie ist Teil der Sklerose, die das Ruhrgebiet befallen hat. Sechs Industrie- und Handelskammern zergliedern die Region. Ihre Bürokratien sind darauf bedacht, ihren Bestand zu sichern. Neben den Kammern existieren im Ruhrgebiet zahllose Unternehmens- und Branchenverbände. Ihr Hauptvorwurf gegen die Politik: das Kirchturmdenken. Dabei sitzen die größten Kirchturmfetischisten in der Wirtschafts- und Verbandsbürokratie.

Das nördliche Ruhrgebiet zwischen Bottrop, Gelsenkirchen und Recklinghausen gilt als besonders stark abgewirtschaftet. Es wird von der IHK Nordwestfalen abgedeckt, die ihren Hauptsitz im 80 Kilometer entfernten Münster hat. Der Organisationszuschnitt stammt von 1854. Damals hatte Gelsenkirchen gerade mal 1000 Einwohner und Bottrop wie Recklinghausen nicht einmal 4000.

Neue Riege der Oberbürgermeister

Es gibt viel aufzuräumen und zu vereinfachen in und zwischen den Revierstädten. In der tief verschuldeten Region könnte viel gespart und vieles effektiver gestaltet werden. Nach den Kommunal- und OB-Wahlen, die 2014 und 2015 stattfanden, glimmt wieder einmal ein wenig Hoffnung auf.

An der Spitze der größeren Städte vollzog sich ein Generationswechsel. Das abgekämpfte Spitzenpersonal trat ab. Jüngere Politiker rückten nach – in Bochum (Eiskirch, SPD), Mülheim (Scholten, SPD), Essen (Kufen, CDU), Herne (Dudda, SPD), Oberhausen (Schranz, CDU) und Duisburg (Link, SPD).

Von der neuen Riege wird erwartet, dass sie den Niedergang der Region stoppt und ihr zum Aufschwung verhilft. Schafft sie es nicht, das Ruhrgebiet in Aufbruch zu versetzen, wird sein Sturz wohl nicht mehr zu verhindern sein. So wie es wuchs, wird es dann zerfallen, von seinen Politikern zugrunde regiert. Noch eine Generation erfolgloser Führungsspitzen wird es wohl kaum verkraften. – Ulrich Horn


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6 Comments

  1. Pingback: Der Ruhrpilot | Ruhrbarone

  2. Ich muß mich für diesen Beitrag bedanken. Er spricht mir nicht nur aus dem Herzen, sondern beschreibt die Ursachen und Missstände präzise, wie man es selten so lesen kann. Es wird klar herausgearbeitet, wo der Kern des Übels liegt: Im Egoismus all dieser Interessengruppen, die Einfluss und Einkommen bewahren wollen und deshalb die Kleinteiligkeit der Strukturen verteidigen. Genau der falsche Ansatz im Wettbewerb der Regionen. Auf Sonntagsreden schwadronniert die Politik immer davon, es sei doch alles nicht so furchtbar schlimm. „Das Glas ist halbvoll. Nicht halbleer“, höre ich andauernd, wie kürzlich erst beim Kick-off zur Ruhrgebietskonferenz in Gelsenkirchen. Wenn es so weitergeht, daran dürfte kein Zweifel bestehen, dann bleibt dieser Zustand des halbvollen Glases auch das erreichbare Maximum. Nur, dass die Regionen, mit denen wir im Wettbewerb stehen, Ihre Gläser schon längst gut gefüllt haben.

    Glückauf

  3. Ein Merkmal, was diese Analyse bestätigt, ist die Zersplitterung des Nahverkehrs. Duisburg z.B. will aus der VIA aussteigen, in Mülheim denkt man immer noch daran, die Straßenbahn ganz abzuschaffen. Dazu kommen in Mülheim ausgelagerte Tochtergesellschaften, um den Haushalt zu verschleiern und abgehalfterte Lokalpolitiker mit Gehältern zu versorgen, die über dem Gehalt der Bundeskanzlerin liegen.

  4. Rasche, Siegbert Reply

    Der Bericht trifft, sagt alles über die finanziell kaputten Städte im Ruhrgebiet aus. Sie haben sich mehr geleistet, als an finanziellen Mitteln vorhanden war. Jetzt fehlen allein Milliarden, um die Schulen zu sanieren. Geld wollen sie aus dem Solidarpaket und treiben damit die zahlenden Städte ebenfalls in haushaltstechnische Schwierigkeiten. Die Südwestfalen können das alles besser. Da sind auch die meisten Bürgermeister und Landräte aus der CDU am Regiepult.

  5. walter dyroff Reply

    -Die Region katapultiert sich mit ihrer Hochsteuerpolitik auch aus dem europaweiten Wettbewerb-
    ?
    RP 30.September 2011
    Das Nokia Lehrstück[1]
    „Vor drei Jahren hatte Nokia nach dem Erhalt von mehr als 60 Millionen Euro an Subventionen das Werk in Bochum dichtgemacht….
    Es war für Nokia schön, dass dem Konzern die Gewerbesteuer erlassen wurde und dass er so insgesamt rund 15 Millionen Euro kassiert hat, doch nur darum überlebt das Werk nicht.

    VDI Nachrichten 8. Mai 2015
    Tonfallverschärfung in der Stahlindustrie [2]
    “Der Stahlriese[italienische ILVA] ist ins Wanken geraten.. in den Jahren 1975 bis 1997 flossen Berechnungen der WV Stahl zufolge 22 Mrd.€ Subventionen nach Taranto..“

    WAZ 15.07.2015[3]
    Billig-Importe aus China, Subventionen, Klima-Auflagen
    Der deutschen Stahlindustrie machen chinesische Billig-Importe zu schaffen.

    -Die Konkurrenten des Reviers sitzen in Hamburg und Berlin, Frankfurt, München und Stuttgart, in den neuen Ländern, in Holland und Österreich.-
    Die Konkurrenten sitzen in Wachstumsländern Russland, China etc.
    Solange die deutsche Politik ihr Heil im Lohndumping und befristeten Stellen in Forschung und Lehre
    und dem Zwang zur „Drittmdmitteleinwerbung“ sucht, können Politiker im Ruhrgebiet wenig ausrichten. Abgesehen davon, dürfte ein großer Teil der verloren gegangenen Arbeitsplätze dem Produktivitätsfortschritt geschuldet sein.

    1 http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/das-nokia-lehrstueck-aid-1.2318315
    2 http://www.vdi-nachrichten.com/Technik-Gesellschaft/Tonfallverschaerfung-in-Stahlindustrie
    3 http://www.derwesten.de/wirtschaft/stahlindustrie-machen-billig-importe-aus-china-zu-schaffen-id10881695.html#plx1982387989

  6. Herrmann Hirsch Reply

    Lieber Herr Horn,

    man merkt, dass der Autor weiß, worüber er schreibt. Diesen und andere Beiträge sollte auch die Ministerpräsidentin zur Kenntnis nehmen können, um Schlüsse daraus ziehen. Vermutlich werden ihr solche Beiträge vorenthalten. Die Lektüre Ihres Blogs wäre für sie sinnvoller, als Zeit damit zu vergeuden, mit Handy-Videos eigene PR zu veranstalten.
    Lieber Herr Horn. Legen Sie weiter den Finger in die Wunde. Alle Abgeordneten des Landtags sollten täglich die Gelegenheit haben, Ihre Berichte lesen zu können. Dann würden diese beispielsweise nicht wegen der vermeintlich wichtigen Partei- und Tagespolitik die wichtige Region unseres Landes aus dem Blick verlieren.
    Allerdings fürchte ich, dass vor der Landtagswahl 2017 Kritik, wie von Ihnen geäußert, ungern von der Regierung gehört wird. Dabei haben Sie doch alle Parteien im Ruhrgebiet angesprochen und in die Pflicht genommen, und das war auch gut so.
    Nur in einer überparteilichen. konzertierten Aktion kann es, wenn überhaupt, gelingen, das Ruder herumzulegen, um mittelfristig den Kurs weg vom Armenhaus Ruhrgebiet hin zu einer prosperierenden Region anzusteuern.
    Warum kann ich solche Artikel wie von Ihnen eigentlich nicht in meiner Heimatzeitung, der WAZ, lesen? Dann würden außer mir sicher auch andere Bürger, vielleicht sogar einige Entscheidungsträger, nachdenklich werden. Im Rückblick muss man dem früheren NRW-Ministerpräsidenten Peer Steinbrück (SPD) für seine derb gescholtene Äußerung Abbitte tun, der damals sinngemäß gesagt hatte, im Ruhrgebiet warte man auf „den reichen Onkel aus Amerika“, damit Probleme gelöst werden könnten. Freilich hat er selbst hat auch nicht viel zur Problemlösung beigetragen.
    Eines scheint jedenfalls klar: Die Stadtväter in Monheim haben keinen Onkel in Amerika. Die in Düsseldorf übrigens auch nicht. Die Düsseldorfer haben auch kein Problem mit RWE-Aktien, weil sie sich schon frühzeitig von RWE-Aktien getrennt hatten, um ihren eigenen Haushalt schuldenfrei zu gestalten. Sie sind damit ganz gut gefahren.

    Viele Grüße

    H. Hirsch

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