Viele Nachrufe priesen den jüngst verstorbenen SPD-Politiker Helmut Schmidt. Als er noch Kanzler war, wollten viele Sozialdemokraten nichts von ihm wissen. Ehe ihn die Wähler zu Fall bringen konnten, ließ ihn die eigene Partei fallen. Droht Merkel das gleiche Schicksal? In der Union signalisieren viele, dass sie ihrer Kanzlerin überdrüssig sind.

Nachwuchs ohne Plan

Die SPD leitete das Ende der Ära Schmidt ein, als sie ihm bei der NATO-Nachrüstung nicht folgen mochte. Seine Amtszeit endete, weil sich die SPD gegen soziale Kürzungen sperrte, die der Koalitionspartner FDP verlangte. 20 Jahre später ließ sich die SPD solche Kürzungen von ihrem dritten Kanzler Schröder unter dem Schlagwort „Agenda 2010“ aufzwingen.

Schmidt versuchte erst gar nicht, der SPD Einschnitte in das Sozialsystem zuzumuten. Er wusste, sie würde sie nicht mittragen. Bei seinem Ausstieg vermied er gerade eben noch den Anschein, er scheide im Bruch mit der Partei.

Die Nachwuchskräfte der SPD sahen sich als Enkel Brandts, nicht als Schmidts Kinder. Ihn empfanden sie als Episode, die es zu überwinden galt. Einen Plan für die Zukunft hatten sie nicht. Sie schauten hilflos zu, wie Unionskanzler Kohl an Schmidts Politik anknüpfte, sie fortsetzte, Kürzungen durchsetzte und dennoch 16 Jahre lang regierte.

Auf Konservierung ausgelegt

Schmidts Kanzlerschaft begann zu erodieren, als er sich mit dem NATO-Nachrüstungsbeschluss exponierte. Er forcierte den Zerfall des Ostblocks, die Wiedervereinigung und die Globalisierung. Mit dem Beschluss bot Schmidt seinen Gegnern aus den unterschiedlichen Lagern aber auch die Chance, ihre Kräfte gegen ihn zu bündeln. Eine solche Entwicklung scheint heute auch bei Merkel in Gang zu kommen – über die Zuwanderung.

Sie ist der Union seit jeher lästig. Kohl bettete Deutschland zwar in Europa ein, doch von Einwanderung hielt er nichts. Obwohl Deutschland seinerzeit viele Zuwanderer aufnahm, beharrte er darauf, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Er fürchtete, Rechtsextremisten könnten das Thema ausschlachten. Er legte die Union und Deutschland nicht auf die Aufnahme aus, sondern auf Abwehr und Konservierung.

Kohl orientierte sich an der Mentalität der Union. Sie ist vor allem auf dem Land und in Kleinstädten stark verankert. In multikulturellen Großstädten tut sie sich bis heute schwer. Das ländliche und kleinstädtische Milieu wirkt besonders stark in der bayrischen Regionalpartei CSU. In Bayern gibt es nur drei Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern. Es gibt nur fünf weitere Großstädte. Sie haben deutlich weniger als jeweils 150.000 Einwohner.

Vor vollendete Tatsachen gestellt

Merkel verfuhr mit der Zuwanderung wie mit der Kernkraft. Sie stellte die Republik vor vollendete Tatsachen. Konservierung führt zu Stagnation. Sie wiederum führt zum Verlust der Macht. Merkel zwang die Union, lange vertretene Positionen zu räumen, die ihre Partei in die politische und gesellschaftliche Isolation führten. Das gilt für die Kernkraft, die nach Fukushima mit ihren Risiken und der fehlenden Entsorgung nicht mehr zu verteidigen war. Das gilt auch für die Zuwanderung, die durch Konflikte in Europas Nachbarschaft anwächst.
 Hätte sich Merkel geweigert, Flüchtlinge aufzunehmen, hätte der Markenkern der Union Schaden genommen. Sie wäre als inhuman und unchristlich gebrandmarkt worden und massiv unter Druck geraten.

Hätte Merkel Parteitagsbeschlüsse herbeiführen sollen, ehe sie die Grenzen öffnete? Sie wäre wohl gescheitert. Als CDU-Generalsekretär Tauber Anfang 2015 ein Einwanderungsgesetz forderte, regte sich sofort Widerstand in den eigenen Reihen. Mit ihrer einsamen Entscheidung hat ihn Merkel kurzerhand gebrochen. Mit der Aufnahme der Flüchtlinge hat sie die Union davor bewahrt, sich ins Abseits zu manövrieren.

Seither kann sich die Union dem Elend der Flüchtlinge und seinen Ursachen nicht länger verschließen. Das gilt auch für Deutschland, für Europa und den Rest der Welt. Ob Zuwanderung stattfinden soll, steht nicht mehr zur Debatte. Es geht nur noch darum, wie die Zuwanderung gestaltet werden soll. Dass über sie in der Union so erbittert gestritten wird, hat auch mit dem Zorn darüber zu tun, dass sie nicht mehr abzuwenden ist.

Den rechtsextremen Rand aufgewühlt

Die Zuwanderung wirft Fragen nach dem Selbstverständnis und den Perspektiven Deutschlands und Europas auf. Es müsste geklärt werden, wie hierzulande die Bildungs- und Sozialsysteme zu verändern sind, an welchen Stellen die Außen-, Innen-, Sicherheits-, Entwicklungshilfe- und die Wirtschaftspolitik neu justiert werden müssen, welche Rolle Deutschland in Europa und welche Rolle Europa in der Welt spielen soll. Über die Zukunft von Staat, Gesellschaft und Europa unter den Bedingungen der Zuwanderung diskutiert die Union bisher jedoch nicht.

Die CDU lässt zu, dass die CSU dem Diskurs ihren Stempel aufdrückt, mit Schlagwörtern wie „Transitzonen“ und „nationale Obergrenzen“, deren Gehalt sich als nicht durchsetzbar, nicht praktikabel oder sogar als grundgesetzwidrig erweist. Seit Wochen zwingt die CSU das Land zuzuschauen, wie sie den rechtsextremen Rand des politischen Spektrums aufwühlt und dabei die Illusion nährt, es könnte eine Rückkehr zu den Zeiten vor der Zuwanderung geben.

Das Thema berührt nicht nur Rechtsextremisten und Parteimitglieder. Auch die zahlreichen anderen gesellschaftlichen Kräfte verbinden mit ihm viele unterschiedliche Interessen und Erwartungen. Die Gesellschaft wird nicht erst durch Zuwanderer vielfältig. Sie ist es seit jeher. Ihre Vielfalt ist viel größer als die der Parteien. Auch in der Union und schon gar in der Bevölkerung gibt es nicht nur Konservative, die Zuwanderung ablehnen, sondern auch Konservative und viele andere, die Zuwanderung aus triftigen Gründen für notwendig halten.

Zur Zielscheibe geworden

So oder so müssen die vielfältigen nationalen und internationalen Aspekte und Interessen, die mit der Zuwanderung verbunden sind, zusammengebunden werden, wenn Deutschland und Europa nicht noch stärker von dem Strudel der Konflikte herumgewirbelt werden sollen, die an den Außengrenzen der EU toben. Kann jemand in Deutschland diese Aufgabe derzeit besser erfüllen als Merkel?

Mit ihrer Weigerung, eine nationale Obergrenze für Flüchtlinge festzulegen, stellt sie sich wieder einmal in der Mitte des politischen Spektrums auf. Ihre Position im bürgerlichen Kern der Gesellschaft machte Merkel bisher unschlagbar stark. Sie versetzt sie auch jetzt wieder in die Lage, den Interessen aller relevanten Gruppen Rechnung zu tragen. Diese Position macht sie aber auch für alle Gruppen leicht zur Zielscheibe. Es fragt sich, ob die Union Merkel nur zähneknirschend gewähren lässt, sie unterstützt oder ihr in den Rücken fällt, wie es CSU-Chef Seehofer seit geraumer Zeit tut.

Trotz der Einbußen bei den Umfragen ist es um die machtpolitischen Optionen der Union so schlecht noch nicht bestellt. Die SPD ist in ihrer 25-Prozent-Nische eingemauert. Das Tor, das Merkel mit dem Atomausstieg für Schwarz-Grün öffnete, hat sie über die Zuwanderungspolitik noch weiter aufgestoßen. Auch diese Perspektive behagt vielen in der Union nicht. Die Zuwanderung ist für nicht wenige eine willkommene Gelegenheit, sich gegen Merkel zu stellen.

Keine Wahlen zu gewinnen

Die CSU sorgt sich um ihre Macht in Bayern. Sie kämpft mit allen Mitteln – auch auf Merkels Kosten und die der CDU – um den Machterhalt. In München zu regieren, ist ihr wichtiger, als in Berlin den kleinen Koalitionspartner zu spielen. Die CSU ist trotz ihres Bemühens um Modernität im Kern eine provinzielle Partei. Sie hat die Provinzialität zu ihrem Markenzeichen entwickelt und sich selbst zum Bestandteil des bajuwarischen Brauchtums stilisiert. Die CSU hat eine lange Tradition, die Bundespolitik für regionale Zwecke zu nutzen und im Übrigen abschätzig zu behandeln.

Die Konservativen in der CDU haben unter Merkel an Einfluss verloren. Sie fürchten, er könnte noch weiter schrumpfen. Sie leiden darunter, dass es ihnen nicht gelingt, ihre Überzeugungen in der eigenen Partei und in der Gesellschaft mehrheitsfähig zu machen. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass mit ihren Überzeugungen weder Wahlen noch Koalitionspartner zu gewinnen sind.

Auch die Junge Union, die Merkels Flüchtlingspolitik attackiert, nimmt mit ihren Forderungen eine Position ein, die weit vom Kern der bürgerlichen Mitte entfernt liegt. Der Unionsnachwuchs ist stark auf politische Karrieren orientiert. Er blickt längst über die Ära Merkel hinaus. Er kann seine Laufbahnen langfristig planen. Für viele wird die große Stunde erst nach Merkel schlagen. Sie können selbst einen Machtwechsel in Berlin schadlos überstehen. In der Opposition ließe sich der Generationswechsel sogar schneller vollziehen.

Viele Rechnungen offen

Einige Schritte in diese Richtung sind bereits getan. Angriffe aus dem eigenen Lager haben Merkels Autorität in der Union beschädigt. Ihre Umfragewerte sind gesunken. Mit ihnen zerbröselt Merkels Unterstützung in Teilen der CDU. Die Sorge, Mandate zu verlieren, greift unter Unionspolitikern um sich. Auch bei ihnen löst die Zuwanderung, wie bei vielen Bürgern, starke Verlustängste aus.

Seit 15 Jahren steht Merkel an der Spitze der CDU. Seit zehn Jahren ist sie Kanzlerin. In dieser Zeit haben sich in der Union über geplatzte Karriereträume und andere Enttäuschungen viele Rechnungen angehäuft, die danach rufen, beglichen zu werden. Alte und Junge werden sie eintreiben. Die Alten haben nichts mehr, die Jungen noch nichts zu verlieren.

Die Zuwanderung wirkt wie ein Katalysator. Vermeintliche Merkel-Nachfolger bringen sich in Position. Auch Finanzminister Schäuble, der Senior des Kabinetts, stichelt gegen Merkel. Mancher in der Union hält ihn für geeignet, sie zu beerben, wenn auch nur bis zur Bundestagswahl 2017, als Platzhalter für den eigentlichen Nachfolger, den die Union erst noch finden muss.

Auf den Spuren der SPD

Solche Manöver kämen die Union teuer zu stehen. Die Wähler mögen Zocker nicht. Schäuble hat eine starke Stellung bei den Konservativen in der Union. Partei und Fraktion schätzen ihn als Finanzminister, doch ein Garant für die Zukunftsfähigkeit der Union ist er nicht. Wahlen sind mit ihm nicht zu gewinnen. Über Merkels gesellschaftliche Bindekraft verfügen weder er noch andere Nachfolgekandidaten.

Merkel sorgt dafür, dass die Union über die Zuwanderung nicht nach rechts abdriftet und nicht panisch in die politische und gesellschaftliche Isolation rennt. Wie dringend die Union Merkel als Anker braucht, zeigt der Umstand, dass die Haltung der Kanzlerin zur Zuwanderung nicht nur in der CDU, sondern auch bei SPD, Grünen und Linken Zustimmung findet. Würde Merkel heute hinwerfen oder gestürzt werden, wäre die Union für viele Wähler unattraktiv. Die Regierungsfähigkeit stünde infrage.

Selbst wenn es in der CDU solche Befürchtungen gäbe, müssten sie einen beträchtlichen Teil der Partei nicht davon abhalten, die Vorsitzende und Kanzlerin zu demontieren und zur Aufgabe zu treiben. Zu Schmidts Zeiten war der Wunsch der SPD, ihren Kanzler hinter sich zu lassen, größer als der Wille, mit ihm die Zukunft zu gestalten. Heute könnte man meinen, die Union schicke sich an, den Spuren der SPD folgen. – Ulrich Horn


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3 Comments

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  2. Hubertus Bruch Reply

    Guten Morgen Herr Horn,
    das ist aber ein sehr wohlgefälliges Halleluja auf die erste grüne Bundeskanzlerin der Republik! Wenn man ihr gut will, dann kann man die abrupten Kehrtwendungen von Frau Merkel als alternativlos ansehen. Nur so konnte sie, wie Sie richtig schreiben, ihre Partei auf Energiewende, Berufsarmee, Flüchtlinge etc. trimmen. Wenn man ihr nicht so gut will, dann könnte man ihr vorwerfen, sie handelt bei den großen gesellschaftlichen Fragen nach Gutsherrenart.
    Und ihre Partei? Die zog knurrend mit, solange es ihr dabei gut ging und ein Großteil der Bevölkerung dies auch tolerierte. Jetzt dreht sich der Wind, und Frau Merkel spürt und wird noch mehr zu spüren bekommen, dass sie mit ihrer analytischen Begabung allein die Emotionen der Menschen nicht mehr eingefangen bekommt.
    Sie haben zudem Recht, wenn Sie meinen, dass es aktuell keine ernstzunehmende Alternative zu Frau Merkel gibt. Auch kann Sie zudem von großem Glück sprechen, dass links lediglich der Gosslarer Brummkreisel und rechts dumpfe Galgenträger lauern. Aber: Auch der Kanzler der Einheit fühlte sich nach vielen Jahren an der Macht als unersetzlich, und dann kam da diese unglaublich unscheinbare Ostdeutsche, und alles ging dann ganz schnell, und ehe sich der Altkanzler versah, befand er sich bei seiner Meike nebst Kaffee & Kuchen.
    Deshalb bleibe ich bei meiner These, dass der im Frühjahr noch zunehmende Zustrom von weiteren Hunderttausenden und die daraus steigende Unzufriedenheit in der Mitte der Gesellschaft ihr das Amt nehmen werden.

  3. Wenn man es nicht auslegt, dann legt man es unter. So oder so ähnlich könnte man die Kommentierung des Herrn Horn zusammenfassen im Zusammenhang mit seinem Vergleich zwischen dem politischen Schicksal von Helmut Schmidt mit demjenigen von der amtierenden Kanzlerin Madame Merkel und Ex-FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda der Ex-DDR in Personalunion.
    Sieht man davon ab, dass man insoweit bei Helmut Schmidt die politische Bundesliga mit der aussitzenden Kreispolitliga der aussitzenden Madame Kanzler Merkel vergleichen will, stimmt auch die Behauptung nicht, dass Helmut Schmidt von seiner eigenen Partei quasi politisch abgesägt worden wäre.
    Selbstverständlich gab es insbesondere in Sachen NATO-Doppelbeschluß zwischen dem Kanzler des kategorischen Imperativs Schmidt und großen Teilen der damals noch tatsächlich links ausgerichteten SPD gravierende Meinungsverschiedenheiten. Zu Fall brachte einen der größten Kanzler, die diese Bundesrepublik seit 1945 hervorgebracht hat, aber ein gewisser Graf Lambsdorff, im Laufe seines Lebens vorbestraft und die blaublütige, politische Speerspitze des deutschen Neoliberalismus.
    Wenn man so will, war Helmut Schmidt mit seiner grundsätzlich sozialdemokratischen Ausrichtung den neoliberalen politischen Wegbereitern in Deutschland bis hin zur heutigen faktischen Diktatur des Finanzkapitals in allen wesentlichen Bereichen dieser Bananenrepublik grundsätzlich im Wege. Dies brachte letztendlich die gesamte deutsche Sozialdemokratie zu Fall. Im Übrigen regierte Helmut Schmidt, wie schon angedeutet, im Sinne von Immanuel Kant. Madame Kanzler Merkel regiert mit Hilfe des Aussitzens und entsprechend permanent stattfindender Umfrageanalysen. Inklusive – eh ich es vergesse – permanenter Rechtsbeugung.
    In meiner Heimat sagt man auch: Beide Personen zu vergleichen würde bedeuten, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Im Falle der Kanzlerin würde ich sogar von „apple -pie!“ mit „Förderung eines Braunstichs“ reden.

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